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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen
Autoren: Tess Gerritsen
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des Schiffes hören. Die Glühbirne an der Decke schwankte hin und her.
    Der Junge wimmerte und rührte sich. Sie fand, daß kleine Jungen etwas Rührendes hatten. Ihre anmutig androgynen Körper verströmten den Duft von warmem Gras. Abby erinnerte sich daran, wie sich ihr Bruder Pete angefühlt hatte, wenn er auf dem Rücksitz des Familienautos gegen ihre Schulter gesackt und eingeschlafen war. Während ihr Vater Meile für Meile fuhr, hatte Abby das sanfte Pochen von Petes Herzen gespürt, genauso wie sie jetzt das Herz des Jungen spürte, das im Käfig seiner Brust schlug.
    Er stöhnte leise und strampelte sich wach, sah zu ihr hoch, und in seinen Augen las sie die dämmernde Erkenntnis.
    »Ah-bii«, flüsterte er.
    Sie nickte. »Richtig. Abby. Du weißt es noch.« Lächelnd strich sie ihm über das Gesicht, und ihre Finger fuhren an dem Bluterguß entlang. »Und du bist … Jakov.«
    Er nickte. Sie lächelten beide.
    Draußen heulte der Wind, und Abby spürte, wie der Boden unter ihnen bebte. Schatten huschten über das Gesicht des Jungen, als er sie mit fast hungrigen Blicken ansah.
    »Jakov«, sagte sie noch einmal und strich mit den Lippen über seine seidig blonden Augenbrauen. Als sie den Kopf hob, spürte sie die Feuchtigkeit auf ihren Lippen. Es waren nicht die Tränen des Jungen, sondern ihre eigenen. Als sie ihn wieder ansah, bemerkte sie, daß er sie noch immer mit jenem seltsamen, gebannten Schweigen anstarrte.
    »Ich bin bei dir«, murmelte sie und strich lächelnd mit den Fingern durch seine Haare.
    Nach einer Weile fielen seine Lider wieder zu, sein Körper entspannte sich, wurde schlaff und fiel erneut in vertrauensvollen Schlaf.
    »Soviel zum Thema Durchsuchungsbefehl«, sagte Lundquist und trat gegen die Tür. Sie flog auf und schlug an die Wand.
    Vorsichtig betrat er den Raum und erstarrte. »Was ist denn das hier?«
    Katzka betätigte einen Schalter an der Wand.
    Beide Männer blinzelten, als das Licht in ihre Augen flutete.
    Es strahlte mit blendender Helligkeit aus drei Deckenlampen.
    Wohin Katzka auch blickte, sah er glänzende Oberflächen.
    Schränke aus Edelstahl, Instrumentiertabletts und Infusionsständer, Monitore mit Kabeln und Knöpfen.
    In der Mitte des Raumes stand ein OP-Tisch.
    Katzka trat an den Tisch und starrte auf die Riemen, die an den Seiten herabhingen. Zwei für die Handgelenke, zwei für die Fußgelenke und zwei längere Gurte für Brust und Hüfte.
    Sein Blick wanderte zu dem Anästhesie-Wagen, der am Kopf des Tisches stand. Katzka öffnete die oberste Schublade. Sie enthielt eine Reihe von Glasspritzen und in Plastik verpackte Nadeln.
    »Was hat all das hier zu suchen, verdammt noch mal?« fragte Lundquist.
    Katzka schloß die Schublade und öffnete die nächste. In ihr wurden kleine Glasampullen aufbewahrt. Er nahm eine heraus: Kaliumchlorid. Sie war halb leer. »Diese Ausrüstung ist benutzt worden«, stellte er fest.
    »Das ist doch bizarr. Was für Operationen haben die denn hier durchgeführt?«
    Katzka blickte wieder auf den Tisch mit seinen Riemen. Auf einmal sah er Abby vor sich, die Handgelenke ans Bett gefesselt, während Tränen über ihre Wangen liefen. Die Erinnerung war so schmerzhaft, daß er den Kopf schüttelte, um das Bild zu vertreiben. Vor lauter Sorge um sie fiel es ihm schwer, klar zu denken. Wenn er nicht klar denken konnte, konnte er ihr nicht helfen. Abrupt wandte er sich von dem Tisch ab.
    »Slug?« Lundquist betrachtete ihn verwundert. »Alles in Ordnung?«
    »Ja.« Katzka drehte sich um und ging aus der Tür. »Alles bestens.«
    Auf dem Bürgersteig vor dem Haus blieb er in dem böigen Wind stehen und betrachtete das Amity-Gebäude. Von der Straße aus konnte man nichts Ungewöhnliches erkennen. Es war bloß ein heruntergekommenes Gebäude in einer heruntergekommenen Straße. Schmutzige Sandsteinfassade, Fenster mit Air‑condition. Als er es vor einigen Tagen betreten hatte, hatte er nur gesehen, was er sehen wollte. Und was er sehen sollte.
    Den schäbigen Verkaufsraum, die ramponierten Tische, auf denen sich Herstellerkataloge stapelten, ein paar Verkäufer, die teilnahmslos telefonierten. Das oberste Stockwerk hatte er nicht gesehen, genausowenig wie er geahnt hatte, daß man mit dem Fahrstuhl direkt zu jenem Raum fahren konnte. Zu dem Tisch mit den Riemen.
    Vor nicht ganz einer Stunde hatte Lundquist die Sigajew-Gesellschaft als Eigentümer des Gebäudes ermittelt – dieselbe Firma aus New Jersey, auf die auch der Frachter zugelassen
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