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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen
Autoren: Tess Gerritsen
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die Sender abgeschaltet hatten.
    Kein Programm, keine Bilder, nur dieses beruhigende weiße Flimmern.
    »Sie sind alle gute Jungen«, versicherte Onkel Mischa.
    »Prachtburschen.«
    Jakov musterte die drei anderen Jungen. Pjotr hatte eine vorstehende Stirn und leicht vorgebeugte Schultern wie ein Gorilla. Stepan hatte komische Ohren, klein und faltig, dazwischen ein Hirn von der Größe einer Walnuß. Alexei lutschte am Daumen.
    Und ich, dachte Jakov und betrachtete den Stumpf seines Unterarms, habe bloß eine Hand. Warum nennen sie uns Prachtkerle? Doch genau das war es, was Onkel Mischa nicht aufhörte zu beteuern. Und die Frau nickte. Ja, es waren gute Jungen, gesunde Jungen.
    »Selbst ihre Zähne sind in Ordnung!« betonte Mischa. »Kein bißchen verfault. Und sehen Sie, wie groß Pjotr ist.«
    »Der da sieht ein bißchen unterernährt aus.« Gregor zeigt auf Jakov. »Und was ist mit seiner Hand passiert?«
    »Er wurde schon so geboren.«
    »Die Strahlung?«
    »Ansonsten ist er vollkommen intakt. Ihm fehlt nur die Hand.«
    »Das sollte kein Problem sein«, sagte Nadja und erhob sich von ihrem Stuhl. »Wir müssen aufbrechen. Es wird Zeit.«
    »Schon so bald?«
    »Wir haben einen Terminplan einzuhalten.«
    »Aber ihre Kleidung?«
    »Die Agentur wird sie neu einkleiden. Und besser.«
    »Muß denn alles so schnell gehen? Haben wir keine Zeit, uns voneinander zu verabschieden?«
    Ein Anflug von Verärgerung blitzte in den Augen der Frau auf.
    »Aber nur einen Moment. Wir wollen unsere Anschlüsse nicht verpassen.«
    Onkel Mischa sah seine Jungen an, seine vier Jungen, die weder durch Blutsbande noch Liebe, sondern allein durch gegenseitige Abhängigkeit und Bedürftigkeit an ihn gebunden waren. Er umarmte einen nach dem anderen. Als er zu Jakov kam, drückte er ihn ein wenig enger und länger. Onkel Mischa roch nach Zwiebeln und Zigaretten. Es waren vertraute Gerüche, gute Gerüche. Doch Jakov zog sich instinktiv zurück. Er mochte es nicht, umarmt oder berührt zu werden, von niemandem.
    »Denk immer an deinen Onkel«, flüsterte Mischa. »Wenn du reich bist in Amerika, denk daran, wie ich mich um dich gekümmert habe.«
    »Ich will nicht nach Amerika«, sagte Jakov.
    »Es ist das Beste so. Für euch alle!«
    »Ich will bei dir bleiben, Onkel! Ich will hier bleiben!«
    »Du mußt fahren!«
    »Warum?«
    »Weil ich es so entschieden habe.« Onkel Mischa packte seine Schulter und schüttelte sie kräftig. »Ich habe entschieden!«
    Jakov sah zu den anderen Jungen hinüber, die sich gegenseitig angrinsten, und dachte: Sie sind glücklich darüber. Warum bin ich der einzige, der Zweifel hat?
    Die Frau nahm Jakov bei der Hand. »Ich bringe sie zum Wagen. Gregor kann noch eben den Papierkram erledigen.«
    »Onkel?« rief Jakov.
    Aber Mischa hatte sich bereits abgewandt und starrte aus dem Fenster.
    Nadja führte die Jungen in den Flur und die Treppe hinunter.
    Sie mußten drei Stockwerke herabsteigen. Das Trampeln der Füße und der Lärm der Jungen hallte laut in dem leeren Treppenhaus wider.
    Sie waren schon im Erdgeschoß, als Alexei auf einmal stehenblieb. »Wartet! Ich habe Shu-Shu vergessen!« rief er und begann, wieder nach oben zu laufen.
    »Komm zurück!« rief Nadja. »Du kannst nicht da hochlaufen!«
    »Ich kann ihn nicht hier lassen!« antwortete Alexei.
    »Komm
sofort
zurück!«
    »Ohne Shu-Shu kommt er nicht mit.«
    »Wer zum Teufel ist Shu-Shu?« fauchte sie.
    »Sein ausgestopfter Hund. Er hat ihn schon ewig.«
    Sie blickte im Treppenhaus nach oben, und in diesem Moment sah Jakov in ihren Augen etwas, was er nicht verstand.
    Er sah Furcht.
    Sie stand da, scheinbar vor der Wahl, ob sie Alexei folgen oder ihn aufgeben sollte. Als der Junge mit dem zerfledderten Shu-Shu die Treppe hinunterkam, schien die Frau vor Erleichterung gegen das Geländer zu sinken.
    »Ich habe ihn!« rief Alexei mit dem ausgestopften Tier im Arm.
    »Jetzt aber los«, sagte die Frau und scheuchte sie hinaus.
    Die vier Jungen drängelten sich auf den Rücksitz des Wagens.
    Es war sehr eng, und Jakov mußte halb auf Pjtors Schoß sitzen.
    »Kannst du deinen knochigen Arsch nicht woanders hintun?«
    knurrte Pjotr.
    »Wohin denn? In dein Gesicht?«
    Pjotr schubste ihn. Er schubste zurück.
    »Hört auf!« befahl die Frau auf dem Vordersitz. »Benehmt euch.«
    »Aber hier hinten ist nicht genug Platz«, nörgelte Pjotr.
    »Dann macht Platz. Und seid still!« Die Frau blickte zum dritten Stock des Hauses hoch, zu Mischas Wohnung.
    »Worauf
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