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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen
Autoren: Tess Gerritsen
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Patienten weiter.
    Ein Assistenzarzt drückte Abbys Arm. »Gratuliere, DiMatteo«, flüsterte er. »Mit Glanz und Gloria.«
    Abby nickte müde. »Danke.«
    Die leitende chirurgische Assistenzärztin Dr. Vivian Chao war eine Legende unter den anderen Assistenzärzten am Bayside-Hospital. Zwei Tage nach Beginn ihres ersten Bereitschaftsdienstes, so ging die Geschichte, erlitt ihre Kollegin einen Zusammenbruch und mußte unkontrolliert schluchzend in die Psychiatrie eingeliefert werden. Vivian war gezwungen einzuspringen. Als alleinige Assistenzärztin hatte sie ohne Unterbrechung neunundzwanzig Tage Bereitschaft. Sie brachte ihre Sachen in den Bereitschaftsraum und verlor umgehend fünf Pfund wegen der gnadenlosen Diät des Kantinenessens.
    Neunundzwanzig Tage lang verließ sie das Krankenhaus nicht.
    Am dreißigsten Tag endete ihr Dienst, und sie ging zu ihrem Wagen, um festzustellen, daß der vor einer Woche abgeschleppt worden war. Der Parkplatzwächter hatte angenommen, das Fahrzeug sei zurückgelassen worden.
    Ihre nächste Durchlaufstation war die Gefäßchirurgie. Vier Tage nach Beginn ihres Dienstes wurde der mit ihr diensttuende Assistenzarzt von einem Bus angefahren und mit einem Beckenbruch ins Krankenhaus eingeliefert. Wieder mußte irgend jemand einspringen.
    Vivian Chao schlug ihr Lager erneut im Bereitschaftsraum auf.
    In den Augen der anderen Ärzte hatte sie damit männliche Qualitäten gezeigt. Das war ein herausgehobener Status, der später beim jährlichen Belobigungsessen dadurch gewürdigt wurde, daß man ihr ein Paar Hanteln schenkte. Als Abby die Vivian-Chao-Geschichten gehört hatte, fand sie es schwierig, diesen eisenharten Ruf mit ihrem ersten Eindruck von Vivian in Einklang zu bringen. Sie sah nur eine wortkarge Chinesin, die so klein war, daß sie zum Operieren auf einem Fußbänkchen stehen mußte. Obwohl Vivian bei den Visiten selten etwas sagte, sah man sie stets furchtlos und mit einem Ausdruck kühler Leidenschaftslosigkeit in der ersten Reihe stehen. In ihrer gewohnt distanzierten Art trat Vivian an jenem Nachmittag in der chirurgischen Intensivstation auch auf Abby zu. Die schwamm mittlerweile in einem Meer der Erschöpfung. Jeder Schritt war eine Anstrengung, jede Entscheidung ein Akt schierer Willenskraft. Sie bemerkte nicht einmal, daß Vivian neben ihr stand, bis sie sagte: »Ich habe gehört, Sie haben ein Schädelhirntrauma AB positiv aufgenommen.«
    Abby blickte von ihren Krankenblättern auf, in denen sie die Daten diverser Patienten nachgetragen hatte. »Ja, gestern nacht.«
    »Lebt der Patient noch?«
    Abby blickte zu Bett elf. »Kommt drauf an, was man unter Leben versteht.«
    »Herz und Lungen in gutem Zustand?«
    »Sie funktionieren.«
    »Wie alt?«
    »Sie ist vierunddreißig. Warum?«
    »Ich habe einen Patienten durch den Studentenkreis verfolgt.
    Schwäche der Auswurfleistung im Endstadium. Seine Blutgruppe ist AB positiv. Er wartet auf ein neues Herz.« Vivian ging zu dem Regal mit den Krankenblättern. »Welches Bett ist es?«
    »Elf.«
    Vivian zog das Krankenblatt heraus und klappte den Metalldeckel auf. Als sie die Seiten überflog, zeigte ihr Gesicht keine Regung.
    »Sie ist nicht mehr meine Patientin«, erläuterte Abby. »Ich habe sie in die Neurochirurgie überstellt. Sie entlasten dort einen subduralen Bluterguß.«
    Vivian las einfach weiter in der Krankenakte.
    »Ihre Operation liegt erst zehn Stunden zurück«, fuhr Abby fort. »Es scheint mir ein wenig verfrüht, schon an Organspenden zu denken.«
    »Wie ich sehe, zeigt sie bis jetzt keinerlei neurologische Veränderungen.«
    »Nein. Aber es besteht immer noch die Möglichkeit –«
    »Bei einer Gesamtpunktzahl von drei auf der Glasgow-Skala?
    Das glaube ich nicht.« Vivian schob die Krankenakte zurück ins Regal und ging zu Bett elf.
    Abby folgte ihr.
    Sie blieb in der Tür stehen und beobachtete, wie Vivian eine knappe Untersuchung durchführte, genau wie sie operierte, ohne Zeit oder Energie zu verschwenden. In ihrem ersten Jahr als Assistenzärztin hatte Abby Vivian oft in der Chirurgie zugesehen und deren kleine, flinke Hände bewundert. Sie hatte ehrfürchtig beobachtet, wie diese zierlichen Finger perfekte Knoten geknüpft hatten. Im Vergleich dazu kam Abby sich immer ungeschickt vor. Sie hatte Stunden und Meter über Meter an Garn investiert und an den Griffen ihrer Schreibtischschubladen chirurgische Knoten geübt, und obwohl sie die Technik einigermaßen gemeistert hatte, wußte sie, daß sie nie
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