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Kalte Herzen

Kalte Herzen

Titel: Kalte Herzen
Autoren: Tess Gerritsen
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härteste Phase durch. Du hast noch zwei Tage auf der Unfallchirurgie. Du mußt nur noch zwei Tage überstehen!«
    »Na super! Danach fange ich in der Thoraxchirurgie an.«
    »Im Vergleich hierzu ist die ein Kinderspiel. Unfallchirurgie ist immer am brutalsten. Du mußt die Zähne zusammenbeißen und durch, wie alle anderen auch.«
    Sie vergrub sich tiefer in seinen Armen. »Würdest du allen Respekt für mich verlieren, wenn ich in die Psychiatrie wechseln würde?«
    »Jeglichen. Ohne Zweifel.«
    »Du bist gemein!«
    Lachend küßte er sie auf ihr Haar. »Das denken viele, aber du bist die einzige, die es laut aussprechen darf.«
    Sie traten aus dem Fahrstuhl und verließen das Krankenhaus.
    Es war schon Herbst, doch seit sechs Tagen schwitzte Boston unter einer septemberlichen Hitzewelle. Als sie über den Parkplatz gingen, spürte sie, wie ihre letzten Kraftreserven dahinschmolzen. Bis zu ihrem Wagen konnte sie kaum noch einen Fuß vor den anderen setzen. Das ist es, was mit uns passiert, dachte sie. Es ist das Feuer, durch das wir gehen, um Chirurgen zu werden. Die langen Tage, der geistige und emotionale Raubbau, die Stunden, die man weiterdrängte, während andere Fragmente des Lebens von einem abfielen. Sie wußte, daß das schlicht ein gnadenloser, aber notwendiger Ausleseprozeß war.
    Mark hatte es überlebt, also würde sie es auch schaffen.
    Er umarmte und küßte sie noch einmal. »Meinst du, du kommst sicher nach Hause?« fragte er.
    »Ich schalte den Wagen einfach auf Autopilot.«
    »In einer Stunde bin ich auch zu Hause. Soll ich Pizza mitbringen?«
    Gähnend rutschte sie hinter das Steuer. »Für mich nicht.«
    »Willst du nichts zu Abend essen?«
    Sie ließ den Motor an. »Heute«, seufzte sie, »will ich nur noch ein Bett.«

Drei
    I n der Nacht kam ihr die Erkenntnis wie ein kaum hörbares Flüstern oder die sanfte Berührung eines Elfenflügels: Ich sterbe! Diese Einsicht schreckte Nina Voss nicht. Wochenlang hatte sie sich durch die Wechselschichten von drei Krankenschwestern und die täglichen Besuche von Dr. Morissey mit seinen ständig höheren Dosen von Furosemid eine heitere Gelassenheit bewahrt. Und warum sollte sie nicht gelassen sein?
    Ihr Leben war reich gesegnet gewesen. Sie hatte Liebe, Freude und Staunen gekannt. Mit ihren sechsundvierzig Jahren hatte sie die Sonne über den Tempeln von Karnak aufgehen sehen, war durch die dämmrigen Ruinen von Delphi gewandert und hatte in Nepal die Hänge des Himalaya erklommen. Und sie hatte jenen Seelenfrieden gefunden, der sich nur dann einstellt, wenn man den zugewiesenen Platz in Gottes Universum annimmt und akzeptiert. In ihrem Leben gab es nur noch zwei Dinge, die sie bedauerte: Sie hatte nie ein eigenes Kind in den Armen gehalten.
    Und Victor würde allein zurückbleiben.
    Die ganze Nacht hatte ihr Mann an ihrem Bett gewacht, ihr in den langen Stunden beschwerlichen Atmens und Hustens die Hand gehalten, durch den Wechsel der Sauerstoffflasche und die Besuche von Dr. Morissey hindurch. Selbst im Schlaf hatte sie Victors Gegenwart gespürt. Manchmal hörte sie ihn durch den Nebel ihrer Träume in der Morgendämmerung sagen: »Sie ist noch so jung! So jung! Kann man nicht noch etwas, irgendwas, unternehmen?«
    Etwas! Irgendwas! So war Victor. Er glaubte nicht an das Unvermeidliche.
    Aber Nina tat es.
    Sie schlug die Augen auf und sah, daß die Nacht endlich vorüber war und die Sonne in ihr Schlafzimmerfenster schien, das Fenster mit dem weitläufigen Blick auf ihren geliebten Rhode-Island-Sund. In den Tagen vor ihrer Krankheit, bevor die Herzerkrankung ihr die Kräfte geraubt hatte, war Nina bei Anbruch der Dämmerung bereits meist wach und angezogen gewesen. Sie war auf den Balkon ihres Schlafzimmers getreten und hatte den Sonnenaufgang beobachtet. Selbst wenn der Nebel dicht über dem Sund hing und das Wasser kaum mehr als ein silbriges Zittern im Dunst war, stand sie da und spürte, wie sich die Erde in ihre Richtung neigte und ihr der Morgen entgegenströmte.
    Ich habe so viele Morgenröten erlebt, und ich danke dir, Herr, für jede einzelne, dachte sie.
    »Guten Morgen, Liebes«, flüsterte Victor.
    Nina wandte sich dem Gesicht ihres Mannes zu. Er lächelte sie an. Manche Menschen, die Victor anblickten, sahen das Antlitz der Macht. Andere erkannten Genialität oder Skrupellosigkeit.
    Doch als Nina Voss ihren Mann an diesen Morgen anblickte, sah sie nur Liebe. Und Erschöpfung.
    Sie streckte die Hand nach ihm aus. Er ergriff sie und
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