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Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition)
Autoren: Oliver Henkel
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anging, konnte er sich ein sarkastisches Grinsen nicht verkneifen. Der gerade beförderte und nicht mehr ganz junge Gustav Diebnitz war also mit einem Mädchen vor den Traualtar getreten, das damals knapp über zwanzig war.
    Frischfleisch für den Herrn Oberst , dachte Prieß. Er nahm den Koffer, schaltete das Radio aus und ging zurück in sein Büro. Dort holte er sich den Trenchcoat und den breitkrempigen Hut vom Kleiderständer. Den Hut setzte er auf, aber den Mantel warf er sich nur über den Arm; dieser Mai war der wärmste seit Jahrzehnten, und das eher hochsommerliche Wetter sollte sich laut Vorhersage auf absehbare Zeit nicht ändern. Für den Bruchteil eines Momentes spielte er mit dem Gedanken, die ungeladene Mauser-Pistole aus der Schreibtischschublade zu holen und mitzunehmen; aber dann entschied er, dass es dafür absolut keinen Grund gab. Mit einem letzten Griff in die Hosentasche überzeugte er sich, dass er seine Autoschlüssel bereits bei sich hatte. Nach Lübeck gelangte man zwar am billigsten und bequemsten mit den Eiltriebzügen der Lübeck-Büchener Eisenbahn, die stündlich vom nahen Hauptbahnhof abfuhren; doch Friedrich Prieß rechnete damit, eine ganze Reihe von Personen und Orten aufsuchen zu müssen. Er setzte sich ungern hinter das Steuer, besonders zu Überlandfahrten, aber er wollte in Lübeck nicht auf Straßenbahnen und kostspielige Taxis angewiesen sein.
    »Also gut«, sagte er halblaut zu sich selbst, »dann will ich mich mal auf den Weg machen.«
    Er ging aus dem Büro, zog die Tür hinter sich zu und schloss ab.
      
    Friedrich Prieß verließ das Kontorhaus durch den hinteren Ausgang und gelangte so direkt zu seinem Auto, das im Schatten des schlanken gotischen Backsteinturms der Jakobikirche parkte. Der Wagen war weder besonders neu noch schön, im Gegenteil. Es handelte sich um eine 66er Brennabor-Havelland-Limousine, die schon zu ihren besten Zeiten nicht beeindruckend gewesen war und die jetzt, da der Rost an mehreren Stellen durch den stumpf gewordenen dunkelgrünen Lack brach, erst recht keine Augenweide mehr darstellte. Außerdem hatte sie noch den steilen Kühler, die frei stehenden großen Scheinwerfer und die kantigen Formen, die mittlerweile hoffnungslos veraltet wirkten. Die modernen Autos hatten sich von diesem schwerfälligen Äußeren längst zugunsten elegant geschwungener, stromlinienförmig glatter Karosserien verabschiedet. Einen einzigen Vorteil hatte der alte Brennabor für Prieß: Er konnte ihn sich leisten. Die Steuern für Personenwagen waren im Deutschen Reich so hoch, dass man fast glauben konnte, mit ihrer Hilfe sollten die Menschen vom Autofahren abgehalten werden. Nur Fahrzeuge, die älter als zwanzig Jahre waren, wurden milder besteuert. Daher schätzte Friedrich Prieß sich glücklich, dieses Auto zu besitzen.
    Er warf Koffer und Trenchcoat auf den Beifahrersitz, nahm hinter dem Steuer Platz und fuhr los. Aber schon dreißig Meter weiter, als er in die Mönckebergstraße einbiegen wollte, versperrte ihm ein Schutzmann den Weg. Zurücksetzen, um auf die parallel verlaufende Steinstraße auszuweichen, konnte er jetzt nicht mehr; im Rückspiegel sah er den grimmigen Kühlergrill eines Lastwagens, der mit bullerndem Motor dicht hinter ihm stand. Prieß stützte sich also mit den Unterarmen auf das Lenkrad und wartete gezwungenermaßen. Schön dämlich von mir , dachte er und ließ die Fingerknöchel knacken. Ich hab doch gewusst, dass heute Mittwoch ist. Aber nein, ich bin ja mit dem Kopf schon ganz woanders. Zweimal pro Woche, an jedem Montag und Mittwoch, marschierten drei Kompanien des 76. Infanterieregiments aus der Neuen Kaserne in Borgfelde quer durch die Innenstadt zum Heiligengeistfeld, um dort Gefechtsformationen einzuexerzieren. Hamburgs verkehrsreichste Straße wurde jedes Mal gesperrt, damit die Füsiliere flott vorankamen: Autos, Straßenbahnen, Lieferwagen, Pferdefuhrwerke, Motorräder – alles hatte dann still zu stehen und, falls nötig, Platz zu machen für die dreihundert Mann in des Kaisers Rock.
    Prieß’ Geduld wurde nicht lange strapaziert. Durch das heruntergekurbelte Fenster hörte er bereits die unverkennbare Mischung von Geräuschen, mit denen sich Marschkolonnen schon von ferne ankündigten. Langsam lösten sich aus dem dicht verfilzten, lauter werdenden Klangteppich die hell rollenden Trommeln, die schrillen Querflöten und das harte Stampfen von Hunderten im exakten Gleichschritt marschierenden Infanteristen heraus. Kurz
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