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Kaisertag (German Edition)

Kaisertag (German Edition)

Titel: Kaisertag (German Edition)
Autoren: Oliver Henkel
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Blickfeld. Er schloss das Fenster wieder und versuchte, eine Reihe von Erinnerungen abzuschütteln, die sich gerade ihren Weg an die Oberfläche zu bahnen begannen. Um gar nicht erst durch Untätigkeit ins Grübeln zu verfallen, ließ er Wasser ins Waschbecken einlaufen, holte das Rasierzeug aus dem Koffer, legte eine frische Gillette-Klinge ein und begann wieder einmal den endlosen Kampf gegen den Bartwuchs. Danach wusch er sich, putzte die Zähne und zog sich an. Er war nun bereit, den Tag in Angriff zu nehmen.
      
    Während des Frühstücks in der Gaststube hatte Friedrich Prieß darüber nachgedacht, wie er weiter vorgehen sollte. Bei der Kriminalpolizei in Kiel anzurufen oder gar selbst dorthin zu fahren, hielt er für sinnlos. In Hamburg hätte er eine Chance gehabt, auf diese Weise an Informationen zu gelangen, denn dort kannte er bei der Polizei genügend Leute, die ihm etwas schuldig waren. Aber das galt halt nicht für Kiel, und nur um seiner schönen blauen Augen willen hätte ihm keiner der Beamten dort Auskünfte zukommen lassen. Somit blieb ihm vorerst nichts weiter übrig, als hier in Lübeck die Personen aufzusuchen, die laut Franziska Diebnitz’ Notizbuch in irgendeiner Verbindung zum Oberst gestanden hatten. Ganz oben auf der Liste stand dabei natürlich Diebnitz’ Vorgesetzter, aber Prieß bildete sich nicht ein, dass General Otto von Deuxmoulins ungeduldig auf den Besuch eines mehr oder weniger zweifelhaften Privatdetektivs wartete. Es würde nicht leicht werden, falls es überhaupt möglich war. Mit diesen schlechten Aussichten vor Augen trank er den erkalteten Rest seines Kaffees aus und stand vom Tisch auf.
      
    Die Straße begann am Südrand der Lübecker Altstadt, zog sich dann durch die Vorstadt St. Jürgen, erst vorüber an Villen und Sommerhäusern, dann an Gärtnereien und Weiden, wobei sie auf halber Strecke den Namen Ratzeburger Allee ablegte und zur Ratzeburger Landstraße wurde. Nachdem sie das Lübecker Stadtgebiet bei Groß Grönau hinter sich ließ, lief sie als gepflasterte Chaussee weiter durch das Herzogtum Lauenburg, um irgendwann die Elbe und noch später ihren Endpunkt Lüneburg zu erreichen. Diebnitz’ Leiche hatte unweit dieser Landstraße im Dreck gelegen, und Friedrich Prieß’ Hotel stand an derselben Straße. Allerdings war es umgeben von den eleganten Villen St. Jürgens und lag in Sichtweite der hohen gotischen Kirchtürme mit den kupfergrünen Turmhelmen, die die Altstadt überragten. Und gleichfalls an dieser Straße, etwa auf halbem Weg zwischen dem Gasthof und Gustav Diebnitz’ letztem Ausflugsziel, erstreckte sich das weitläufige Areal des Physikalischen Forschungsinstituts Lübeck.
    Ursprünglich war hier, in angemessener Entfernung zu den Wohngebieten, die Städtische Heilanstalt für Geisteskranke beheimatet gewesen. Aber nachdem sie 1964 in ein neues Domizil nahe der Ostseeküste umgezogen war, hatte das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik die Anlage übernommen und in den Gebäuden Laboratorien eingerichtet. Nominell war das Forschungsinstitut immer noch Teil des Kaiser-Wilhelm-Instituts, aber es war offensichtlich, dass hier mittlerweile das Militär federführend war: Spezialeinheiten des Kriegsministeriums bewachten das durch hohe Elektrozäune abgeschottete Gelände. Welche Forschungsprojekte dort auch immer verfolgt wurden, sie mussten von enormer Bedeutung für das Reich sein. Von der Straße aus weithin sichtbar ragte immer noch das Wahrzeichen der früheren Heilanstalt über die Baumwipfel, der Glockenturm mit den vier Zifferblättern, der entfernt an Big Ben in London erinnerte. Aber was zu seinen Füßen geschah, wussten nur wenige; und damit das auch so blieb, schirmte die Sonderbrigade des Kriegsministeriums das Physikalische Forschungsinstitut streng ab.
    Prieß saß in seinem Auto und wartete, bis der graue Militärlastwagen vor ihm die Sperre am Haupttor passieren durfte. Die Wachen, die ihn bereits misstrauisch beobachteten, ließen in ihm ein ungutes Gefühl aufsteigen. Die Männer der Sonderbrigade unterschieden sich schon äußerlich völlig von den gewöhnlichen Truppen. Normalerweise trugen deutsche Soldaten immer den traditionsreichen blauen Rock und die Pickelhaube; die feldgrauen Monturen blieben hingegen meist unbenutzt in den Magazinen, denn kein Kommandeur hätte es mit seinem Stolz vereinbaren können, seine Einheit in diesen unansehnlichen Aufzug zu stecken. Bestenfalls wurde zu Manövern der graue Überzug für die
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