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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben
Autoren: Charlotte Lyne
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gewiegt. »Das wirst du müssen. Du kannst nur Amicia wählen oder dein Volk.«
    Starr vor Angst hatte Amicia dabeigestanden, überzeugt, sie werde es nicht überleben, wenn Vyves sich gegen sie entschied. Und er musste sich doch gegen sie entscheiden. Schließlich konnte kein Mann seinem Volk und der Ordnung, in die er geboren war, den Rücken kehren. Ratlos hatten sie einander angesehen, Amicia voll Zorn auf sich selbst, weil ihr die Tränen kamen.
    Vyves rettete ihr das Leben, indem er schlicht aufstand und erklärte: »Wenn es sein muss, wähle ich Amicia.«
    Ich vergesse es dir nie, schwor ihm Amicia stumm. Solange ich lebe, ich vergesse es dir nie.
    Wind wehte ihr den Schleier übers Gesicht. Sie hatte ihn aus Isabels Truhe genommen. Woher hatte wohl Vyves seinen blauen Surcot? Obwohl Vyves schon zehn Jahre alt und so gut wie ein Mann war, war er ihm zu groß, aber schön sah er trotzdem darin aus. Seine schwarzen Locken glänzten wie gelackt. Vyves, Vyves, Vyves! Ihr Freund, ihr Herzensgeliebter.
    In seinen Augen blitzte ein Lächeln, und just in diesem Augenblick drang fahles Sonnenlicht durch die Wolken, und der Wind, der bis in den geschützten Hof drang, legte sich. Amicia spürte ihr Herz schlagen. Sie hatte ein Heim, sie hatte eine Familie, und sie würde ihr Leben mit dem besten Mann der Welt teilen. Konnte ein Mädchen auf Erden glücklicher sein?
    Neben Vyves stand Aveline und blickte hilfesuchend hinüber zu Abel. Wie üblich wusste sie nicht, was zu tun war. Kein Mensch hätte erraten, dass dieses verlorene Wesen die Älteste von ihnen war. »Aveline wird immer ein Kind bleiben«, hatte Amicia Adam de Stratton sagen hören, und sowenig sie Adam mochte, darin musste sie ihm recht geben. Aber selbst wenn Aveline ein Kind blieb, so war sie nach Thomas’ Tod dennoch die Erbin der Burg. Deshalb kam es ihr zu, für Vyves den Vertrag zu unterzeichnen, auch wenn er ihr dabei die Hand führen musste.
    Amicia warf einen Blick über die Brunnenmauer. Wie oft hatte sie mit Abel hier gestanden, um Steine in die schwarze Tiefe zu werfen. Hundertfünfzig Fuß tief war der Brunnen, sie hatten gezählt, bis der Stein mit einem Platschen ins Wasser tauchte: sieben, acht, neun, zehn. Sie würde es nie wieder tun. Die Zeit für solche Albernheiten war vorbei. Sie war kein Kind mehr, sondern eine Braut.
    Abel nickte Aveline zu, dann trat er vor und senkte den Blick auf den Vertrag. »Ich, Abel von Carisbrooke, grüße Euch, Aveline de Fortibus. Ich geleite meine Schwester Amicia, die Amsel von Carisbrooke.« Amsel von Carisbrooke – den Namen hatte Vyves ihr gegeben, weil sie amselbraunes Haar hatte und das Lied, mit dem in der Brunft ein Vogel dem anderen Antwort gab, täuschend nachahmen konnte.
    Aveline warf sich in die magere Brust. »Ich, Aveline de Fortibus, geleite meinen Untertan, Vyves Chantor.«
    »Vyves ben Elijah«, flüsterte Vyves, aber er lächelte und nahm es Aveline nicht übel, dass sie sich den schwierigen Namen nicht merken konnte.
    Amicia sah ihn an. Sie und Abel besaßen überhaupt keinen Familiennamen, weshalb man sie bei dem Ort rief, an dem sie geboren worden waren, doch letztlich zählte nur, was heute verbindlich besiegelt wurde: Vyves und sie gehörten zueinander.
    Vyves und Amicia. Amicia und Vyves. Um den Brunnen herum trat er auf sie zu und übergab ihr mit verschwörerischem Lächeln sein Brautgeschenk. Der Stein lag glatt in ihrer Hand – golden wie ihre Zukunft, klar wie ihre Bindung aneinander und in ihm eingeschlossen das Zeichen für Hoffnung und Geduld.
    »Euer heutiges Versprechen ist bindend«, beendete Abel seine Ansprache. »Wenn einer von euch einen anderen nimmt, begeht er die Sünde der Bigamie. Ehe ich aber das Versprechen siegele, muss ich um Gottes Segen und Beistand beten.« Er reichte Aveline den Vertrag, trat vor den Brunnen und kletterte auf die Mauer, als sei diese eine Stufe zu einem Altar.
    Im nächsten Atemzug zerbarst die Stille. Metall klirrte, Holz splitterte, und mit dumpfem Krachen stürzte etwas zu Boden. Ein Schrei gellte in den Hof. Hufgeklapper und schwere Schritte folgten. Dann übertönte Avelines Schrei den Rest.
    Amicias Gedächtnis fand keine Zeit, um Bilder zu speichern, nur zerstückelte Fetzen und Laute. Die Torflügel der Vorhalle brachen donnernd auf. Einen Wachmann, der zu fliehen versuchte, traf ein Schwerthieb in der Leibesmitte. Mit einem schwappenden Laut ergoss sich Blut auf den Stein, ehe der Tote zusammensackte. Zwei Reiter sprengten
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