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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben
Autoren: Charlotte Lyne
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in den Hof, der vordere mit offenem Helm. Amicia sah ein junges, sommersprossiges Gesicht, dann schoss das Pferd an ihr vorbei, und eine Schar gerüsteter Männer stürmte hinterdrein. Im Nu war das schmale Viereck gefüllt. Vor verbeulten Brustpanzern hoben sich Lanzen, im blassen Licht glänzten Schwertklingen. Zwei Bewaffnete packten Aveline, die brüllte wie am Spieß. Der eine hielt sie bei den Schultern, der andere bei den Fußgelenken. Amicias Ehevertrag entglitt ihrer Hand und flatterte im Wind davon.
    Was wollt ihr von uns?, versuchte Amicia zu schreien, wir sind doch nur Kinder, die am Palmsonntag ein harmloses Spiel spielen! Ihre Kehle aber war trocken wie Stroh, und eine Lähmung ergriff von ihren Gliedern Besitz. Es war Vyves, der zwischen Aveline und ihre Peiniger sprang, mit einem Todesmut, der unerträglich war. Einer der Männer packte sein Schwert bei der Klinge und schlug ihm den Knauf des Schaftes auf den Kopf. Vyves stürzte, blieb liegen, und der Mann hieb nach, als dresche er Korn. Über das Pflaster rann ein dünner Strom Blut. Von Neuem ergriffen die Männer Aveline, die jetzt nur noch wimmerte.
    Zwei weitere Männer hatten ebenfalls die Schwerter gezogen, Anderthalbhänder, mit denen sie auf Abel zueilten. Der kniete noch immer auf der Brunnenmauer, hielt den Nacken gebeugt und bat Gott um Segen für Amicias Ehe. Steckte er so tief in seiner Austernschale mit Gott, dass er von alldem um sich herum nichts bemerkte? Erneut wollte Amicia schreien und konnte es nicht. Nicht Abel! Nicht ihn! Er war ein kleiner Junge, der den ganzen Tag Bücher studierte und niemandem etwas zuleide tat. Ihr Zwilling war er, die andere Hälfte, ohne die sie nicht vollständig war. Oft gab er sich lebensklug, doch in Wahrheit war er ein Kind und würde noch Jahre brauchen, um zu lernen, dass die Welt voll Übel war. Sie durften Abel nichts tun!
    Das Schreien und Rasseln schwoll in Amicias Ohren zum Orkan. Einen Wimpernschlag lang, als der Reiter mit dem offenen Visier sein Pferd zur Seite lenkte, sah sie ein Gesicht. Neben dem Pferd stand ein Mann ohne Helm. Nein, kein Mann, sondern ein Junge, älter als Vyves, aber jünger, als der arme Thomas geworden war. Das Gesicht war von kalter, ebenmäßiger Schönheit, seine Augen brannten sich Amicia ein. Ungerührt stand der Junge dort, derweil ringsum Männer Amicias Leben in Stücke schlugen. Einer von ihnen stand vor dem betenden Abel auf der Brunnenmauer. Mit beiden Händen packte er den Schwertgriff und schwang die Waffe über seinen Kopf, doch ein anderer gebot ihm lässig Einhalt. Klirrend schob er das Schwert in die Scheide und stieß mit behandschuhten Händen Abel in den Rücken. Abel schrie nicht einmal. Er fiel vom Brunnenrand wie ein Apfel vom Baum.
    Wie oft hatten sie in diesem Hof gestanden, endlose, sonnige Tage lang, hatten Steine in den Brunnen geworfen und gezählt, wie oft ihre Herzen schlugen, ehe die Steine ins Wasser platschten! Amicia konnte nicht anders, sie musste zählen: sieben – acht – neun – zehn. Das Geräusch tat ihren Ohren weh, und ihre Finger umklammerten ihr Brautgeschenk. Ihr Schrei gefror ihr in der Kehle.
    Das Letzte, was sie erkannte, war das verzerrte Gesicht des fremden Jungen unter einem Himmel, der sich schwarz zuzog. Dann wurde sie von fremden Händen gepackt. Der Schlag gegen die Schläfe tat nicht einmal weh, sondern nahm ihr nur den Atem. Noch einen Schmerzensschrei hörte sie, markerschütternd und so lang gezogen, als würde er nie mehr enden. Funken sprühten vor ihr auf, winzige Drachen, die Feuer spien, und gleich darauf spürte sie Sackleinen, das ihr die Wangen aufschürfte. Als ein zweiter Schlag ihre Stirn traf, ließ sie sich endlich fallen und sah nichts mehr als gnädige Schwärze.

Erster Teil
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    »Sciatque abbas culpae pastoris incumbere, quidquid in ovibus paterfamilias utilitatis minus potuerit invenire.«
    »Auch wisse der Abt: Die Schuld trifft den Hirten, wenn der Hausvater bei seinen Schafen mangelnden Ertrag feststellt.«
    Benediktsregel, 2.7

1
    S
eit dem Ende des Winters war Magdalene mit ihrem Herrn Matthew unterwegs. So nannte sie ihn: ihren Herrn Matthew, und er nannte sie Mag, weil er ihren Namen zu pompös für sie fand. Wer ihr den Namen gegeben habe, hatte er gefragt und vermutet, sie hätte ihn von Gilles, dem Frauenwirt, weil sich Mädchen mit klangvollen Namen teurer verkauften. Magdalene aber
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