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Kains Erben

Kains Erben

Titel: Kains Erben
Autoren: Charlotte Lyne
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gebaut hatten: die Katen der Bauern, die ihr Korn zur selben Mühle trugen, und die Behausungen der Dörfler, die aus demselben Brunnen Wasser schöpften, die Kapellen, gebettet in Nester aus Wohnstätten, und die Burg, die über alles wachte. Dieser Komplex von Gebäuden jedoch stand für sich allein und genügte sich selbst. Lediglich zur Rechten duckten sich ein paar Hütten in den Schutz der schweigenden Mauern. Über dem steinernen Ring ragte das Dach einer Kirche ohne Turm auf.
    »Wir sind da«, sagte Herr Matthew, ohne sich nach Hugh und Magdalene umzudrehen. »Ihr wartet hier.«
    So war es immer, wenn sie ein neues Quartier bezogen: Er ging allein voraus, um mit den Wirtsleuten über den Preis zu verhandeln, und holte dann Hugh und Magdalene nach. Heute aber war etwas anders. Mit dem Hund an seiner Seite ritt er auf die steinerne Front zu, als füge er sich in ein dunkles Schicksal. Der Gebäudekomplex war ein Kloster, hatte er gesagt. Weshalb um alles in der Welt waren sie hierhergekommen?
    »Ich sorge mich um den Herrn«, sagte Magdalene zu Hugh, als sie nach Mittag noch immer warteten. »Ich denke, ich gehe dort hinüber und sehe nach, wo er ist. Du achte mir auf das Maultier.«
    Heftig schüttelte Hugh den Kopf und versuchte, Magdalene aufzuhalten. Sie aber befreite sich und lief los, ohne auf seine kaum menschlichen Laute zu achten. Sie rannte auf das Torhaus zu, in dem ihr Herr verschwunden war, zuerst durch hohes Gras, dann über einen Kiesweg, der unter ihren Sohlen knirschte. Je näher sie dem Tor kam, desto sicherer war sie, dass die eisenbeschlagene Tür, die hoch genug war, einen Reiter einzulassen, verschlossen sein würde. Ein Mensch, den sie um Einlass hätte bitten können, war weit und breit nicht zu entdecken.
    Furcht erfasste Magdalene. Sie war nicht fähig, klar zu denken. Mit beiden Händen packte sie den riesigen Messingklopfer und ließ ihn donnernd gegen die Tür krachen. Als sich auch beim dritten Mal nichts rührte, ergriff sie die Klinke und rüttelte daran. Die Tür war viel schwerer als erwartet und bewegte sich kein Stück. Regte sich hinter dem Holz überhaupt Leben, oder hatte eine schweigende Totensiedlung ihren Herrn verschluckt? Magdalene rüttelte weiter, bis die Erschöpfung sie zum Innehalten zwang. Sie hörte Rufe, fuhr zusammen und blickte zu ihrer Rechten.
    Hatte sie der Stimme nach auf eine Frau geschlossen, so entdeckte sie jetzt einen Burschen, der ihr aus Richtung der Hütten entgegenlief.
    »Heda! Was tust du? Du kannst doch dort nicht hinein!« Außer Atem blieb er stehen, beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie, um Luft zu schöpfen.
    Er war ein hübscher Bursche. Für die Schönheit von Menschen hatte Magdalene einen Blick. Er war sehr schlank und zwar größer als sie, doch gewiss einen vollen Kopf kleiner als Sir Matthew. Er trug das grobe Hemd und die Beinkleider der Bauern am Leib, dazu kurze Stiefel und eine lederne Kappe. »Was fällt dir ein?«, fragte er und richtete sich auf. »Was immer dein Anliegen ist – dort gibt es keinen Eintritt für dich.«
    »Warum denn nicht?«
    Der fremde Junge lachte auf. »Nun, warum wohl nicht? Was meinst du wohl? Was treibt dich überhaupt her, ich habe dich hier noch nie gesehen. Hast du Hunger? Dann komm mit, ich gebe dir ein Säckchen Korn.« Er wies in die Richtung, aus der er gekommen war, und zog sich die Kappe vom Kopf.
    Magdalene stockte der Atem. Die Züge seines Gesichts mochten kantig und hager sein, doch es bestand kein Zweifel: Vor ihr stand kein Bursche, sondern ein Geschöpf wie sie selbst: ein Mädchen in Jungenkleidern, mit lieblos abgesäbeltem Haar.
    Dabei hätte das Haar recht schön sein können. Es war dicht wie ein Pferdeschweif und braun wie Amselgefieder. Die Augen allerdings waren seltsam: grünlich und hell und dennoch ohne Glanz.
    »Tust du das immer?«, fragte die Fremde barsch.
    »Tue ich was?«
    »Einen Menschen, der dir seine Hilfe anbietet, zum Dank wie eine Missgeburt anglotzen.«
    Schuldbewusst schlug Magdalene sich auf den Mund. Sir Matthew hatte sie deswegen auch schon getadelt: Sie starrte Menschen ins Gesicht, wie gebildete Leute in Bücher starrten, um darin zu lesen. »Tut mir leid«, sagte sie. »Hab Dank, dass du mir Korn geben willst. Es muss euch wohl ergehen, wenn ihr das Korn so einfach verschenken könnt, aber mir ergeht es auch wohl. Mein Herr Matthew ist ein adelig geborener Ritter, und er sorgt für mich, wie ich es mir besser nicht wünschen
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