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Kain

Kain

Titel: Kain
Autoren: José Saramago
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Wüste, die Dornen und Disteln, der Bach mit seinem trüben Wasser, sie verblassten in der Erinnerung, bis sie ihnen zuweilen wie sinnlose Erfindungen vorkamen, nicht erlebt, nicht einmal geträumt, sondern erahnt als die Vorstellung von einem anderen Leben, einem anderen Sein, einem anderen Schicksal. Zwar war in Evas Erinnerungen ein Platz für Asael reserviert, den Cherub, der gegen die Anweisungen des Herrn verstoßen hatte, um dessen Geschöpfe vor dem sicheren Tod zu bewahren, doch das war ihr Geheimnis, das sie niemandem anvertraut hatte. Und es kam der Tag, da konnte Adam ein Stück Land kaufen, es sein Eigen nennen und an der Flanke eines Hügels ein einfaches Lehmhaus bauen, wo später seine drei Söhne Kain, Abel und Seth zur Welt kommen sollten, die jeder zum entsprechenden Zeitpunkt seines Lebens zwischen Küche und Wohnzimmer krabbelten. Und auch zwischen Küche und Feld, denn als sie ein wenig größer waren, nutzten die beiden Älteren mit der arglosen Schläue ihres zarten Alters jeden triftigen oder auch nicht ganz so triftigen Vorwand, um sich vom Vater auf dem Esel der Familie zu seinem Arbeitsplatz mitnehmen zu lassen. Schon früh erwies sich, dass die beiden Kleinen nicht die gleichen Neigungen hatten. Während Abel die Gesellschaft der Schafe und Lämmer bevorzugte, richtete sich Kains ganze Freude auf Hacke, Heugabel und Sense, der eine dazu bestimmt, den Weg zur Viehzucht einzuschlagen, der andere dem Ackerbau verschrieben. Man muss zugeben, dass die Aufteilung der familiären Arbeitskraft rundweg zufriedenstellend war, da sie doch die beiden wichtigsten Wirtschaftssektoren der damaligen Zeit zur Gänze abdeckte. Unter den Nachbarn herrschte die einhellige Meinung, diese Familie habe Zukunft. Und sie sollte sie haben, wie sich schon bald erwies, dank der stets unverzichtbaren Hilfe des Herrn, denn dafür ist er ja da. Seit ihrer zartesten Kindheit waren Kain und Abel die besten Freunde gewesen, so gute Freunde, dass man sie kaum für Brüder hielt, wohin der eine ging, ging auch der andere, und alles machten sie in schönster Eintracht. Der Herr hat sie gewollt, der Herr hat sie vereint, so sprachen im Dorf die neidischen Mütter, und so war es wohl auch. Bis eines Tages die Zukunft befand, es sei an der Zeit, sich zu offenbaren. Abel hatte sein Vieh, Kain seinen Acker, und wie die Tradition und die religiöse Pflicht es verlangten, brachten sie dem Herrn die Erstlinge ihrer Arbeit zum Opfer dar, Abel verbrannte das zarte Fleisch eines Lamms und Kain die Früchte des Ackers, etliche Ähren und Saaten. Dann geschah, was bis heute niemand hat erklären können. Der Rauch des von Abel geopferten Fleisches stieg schnurgerade auf, bis er im unendlichen Weltraum verschwand, ein Zeichen, dass der Herr sein Opfer annahm und dass es ihm gefiel, doch der Rauch von Kains geopferten Feldfrüchten, mit mindestens ebenso großer Liebe gehegt, kam nicht weit, er löste sich schon bald in geringer Höhe über dem Erdboden auf, was bedeutete, dass der Herr das Opfer, ohne lange zu überlegen, ablehnte. Beunruhigt, bestürzt schlug Kain Abel vor, den Platz zu tauschen, vielleicht herrschte da eine Luftströmung, die der Grund für die Störung war, so tauschten sie also den Platz, doch mit genau dem gleichen Ergebnis. Es war klar, dass der Herr Kain verschmähte. Da offenbarte sich Abels wahrer Charakter. Statt am Kummer seines Bruders Anteil zu nehmen und ihn zu trösten, verhöhnte er ihn, und als wäre es damit noch nicht genug, begann er sich selbst zu preisen, erklärte sich dem sprachlosen, fassungslosen Kain gegenüber zum Liebling des Herrn, zu dem von Gott Erwählten. Dem unglücklichen Kain blieb nichts anderes übrig, als die Schmach herunterzuschlucken und wieder an die Arbeit zu gehen. Die Szene wiederholte sich eine Woche lang auf dieselbe Weise, immer ein Rauch, der aufstieg, immer ein Rauch, den man mit der Hand berühren konnte und der sich sogleich in der Luft auflöste. Und immer Abels Mitleidslosigkeit, Abels bissige Kommentare, Abels Verachtung. Eines Tages forderte Kain seinen Bruder auf, mit ihm zu einem Tal in der Nähe zu gehen, in dem sich einem Gerücht zufolge ein Fuchs versteckt hatte, und dort tötete er ihn eigenhändig, erschlug ihn mit einem Eselskiefer, den er zuvor in einer Brombeerhecke versteckt hatte, also mit heimtückischem Vorsatz. Genau in diesem Augenblick, das heißt in Bezug auf die Ereignisse zu spät, ertönte die Stimme des Herrn, und es ertönte nicht nur seine
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