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Jan Fabel 05 - Walküre

Titel: Jan Fabel 05 - Walküre
Autoren: Craig Russell
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Prolog
     

I. Mecklenburg 1995
     
    Schwestern sind wie Spiegelbilder, dachte sie.
    Ute saß da und betrachtete sich in ihrem jüngeren Spie­gelbild: in Margarethe, die erschöpft wirkte. Und traurig. Es schmerzte Ute, sie so vor sich zu sehen. Auch in ihrer Kindheit war die Energie ungleichmäßig zwischen ihnen verteilt gewe­sen. Margarethe hatte immer den Eindruck des lebhafteren, klügeren, hübscheren Mädchens gemacht. Zudem schmerzte es Ute, ihre Schwester an einem Ort wie diesem besuchen zu müssen.
    »Erinnerst du dich an die Zeit, als wir klein waren?«, fragte Margarethe und musterte das blau getönte Fensterglas. »Erin­nerst du dich, wie wir an den Strand gegangen sind und über den Schaalsee geschaut haben? Und wie du gesagt hast, dass wir eines Tages über ihn fortsegeln würden? In den anderen Teil Deutschlands. Oder nach Dänemark oder Schweden. Und wie du mir erklärt hast, dass das nicht erlaubt sei? Erinnerst du dich, wie wütend ich geworden bin?«
    »Ja, Margarethe, ich erinnere mich.«
    »Darf ich dir ein Geheimnis verraten, Ute?«
    »Natürlich, Margarethe. Schließlich sind wir Schwestern. Genau wie früher, als wir uns immer unsere Geheimnisse anver­traut haben. Abends, wenn das Licht aus war und wir miteinan­der flüstern konnten, ohne dass Mama und Papa etwas hörten. Erzähl mir jetzt von deinem Geheimnis.«
    Sie saßen an einem Tisch am Fenster, das auf die Gärten hi­nausblickte. Es war ein heller, sonniger Tag, und die Blumen­beete standen in voller Blüte, doch durch das dicke Fensterglas war die Aussicht mit einem leichten kobaltblauen Schimmer überzogen. Es muss daran liegen, dass es ein Spezialglas ist, dachte Ute. Unzerbrechlich. Zumindest war es besser, als durch Gitter zu schauen.
    Margarethe musterte misstrauisch die anderen Patientinnen und Besucher sowie das anwesende Personal. Dann verbannte sie alle wieder aus ihren Gedanken, um ihr Universum auf sich selbst, ihre Schwester und die blau getönte Aussicht einzugren­zen. Sie beugte sich verschwörerisch vor. In diesem Moment wurde sie wieder zu dem hübschen kleinen Mädchen, das sie einst gewesen war. Dem sehr hübschen Mädchen von früher.
    »Es ist ein schreckliches Geheimnis.«
    »Die hat jeder«, sagte Ute und legte ihre Hand auf die ihrer Schwester.
    »Es wird lange dauern, es dir zu erzählen. Sehr viele Besu­che. Bis jetzt habe ich es niemandem verraten, aber nun kann ich nicht mehr anders. Kommst du wieder her, um dir meine Geschichte anzuhören?«
    »Natürlich.« Ute lächelte traurig.
    »Erinnerst du dich, wie Mama und Papa abgeholt wurden? Erinnerst du dich, wie sie uns getrennt und in verschiedene Heime gebracht haben?«
    »Wie könnte ich so etwas vergessen? Aber lass uns jetzt nicht über solche Dinge sprechen.«
    »Sie haben mich an einen besonderen Ort gebracht, Ute.« Ihre Stimme hatte sich zu einem Flüstern gesenkt. »Sie sagten, ich sei etwas ganz Besonderes und zu außergewöhnlichen Din­gen fähig. Ich könne zur Heldin werden. Sie brachten mir Dinge bei. Grässliche Dinge. So schlimm, dass ich dir nie da­von erzählt habe. Nie. Darum bin ich hier. Darin besteht mein Problem. All die fürchterlichen, grauenhaften Dinge in meinem Kopf ...« Sie runzelte die Stirn, als bereite der Gedanke ihr Schmerzen. »Ich wäre nicht hier, wenn sie mir nicht beige­bracht hätten, so schreckliche Dinge zu tun.«
    »Was für Dinge, Margarethe?«
    »Ich erzähle es dir. Jetzt gleich. Aber du musst mir verspre­chen, dass du dann alles für mich in Ordnung bringst.«
    »Das verspreche ich, Margarethe. Du bist doch meine Schwester. Ich verspreche dir, dass ich alles in Ordnung bringe.«
     
     

II. Hamburg, Januar 2008
     
    Sie wartete auf ihn.
    Seit er zum ersten Mal auf der Erichstraße, gegenüber dem Erotic Art Museum, in ihr Blickfeld geraten war, hatte sie ihn verfolgt. Nun kam er auf sie zu, konnte sie jedoch noch nicht sehen. Sie wich in die Dunkelheit des kleinen, mit Kopfstein gepflasterten Platzes zurück. Hier würde es geschehen. Der Platz war unbeleuchtet, nur von den Straßen zu beiden Seiten sickerte etwas Helligkeit durch. Außerdem warfen die beiden kahlen Bäume, die aus der ungepflasterten Mitte des Platzes emporwuchsen, ihre Schatten.
    Sie wartete auf ihn.
    Während er sich näherte, erkannte sie sein Gesicht. Sie war ihm nie begegnet, hatte ihn nie leibhaftig zu Gesicht bekom­men, doch sie erkannte ihn. Er war jemand aus der nichtrealen Welt. Jemand, den sie aus dem Fernsehen, aus
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