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Kahlschlag (German Edition)

Kahlschlag (German Edition)

Titel: Kahlschlag (German Edition)
Autoren: Joe R. Lansdale
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dass sie nicht ungeschoren davonkommen würde, aber eine Züchtigung würde sie sich nur von ihrer Schwiegermutter, Marilyn Jones, gefallen lassen. Die Frau hatte sie immer gut behandelt. Eine Ohrfeige konnte sie durchaus aushalten.
    Aber nur eine.
    Mrs. Jones schlug mit aller Kraft zu, so fest, dass Sunset zu Boden geschleudert wurde und der Sessel umfiel. Der Schlag traf sie genau dort, wo auch Pete sie geschlagen hatte, und es brannte höllisch.
    »Du hast meinen Jungen umgebracht«, sagte Marilyn.
    »Ich wollte nicht, dass das passiert«, entgegnete Sunset und fing an zu weinen.
    Langsam erhob sie sich, stellte den Sessel wieder hin, zog das Hemd so gut wie möglich herunter und setzte sich wieder. Den Revolver hielt sie immer noch in der Hand, wie ein Ertrinkender sich an einen Strohhalm klammert.
    Marilyn sah auf sie hinunter. Ihr Haar hatte sich gelöst und hing ihr ins Gesicht. Sie hob die Hand, als wollte sie Sunset noch einmal schlagen.
    »Nein«, sagte Sunset.
    Marilyns Gesichtsausdruck wurde sanfter. Sie musterte Sunset eine Zeit lang, dann breitete sie die Arme aus und sagte: »Komm her, mein Schatz.«
    »Was hast du gesagt?«, fragte Sunset.
    »Komm her.«
    Sunset starrte ihre Schwiegermutter einen Moment lang an und stand dann vorsichtig auf.
    »Keine Angst«, sagte Marilyn. »Ich hab mich wieder eingekriegt.«
    »Das könnte aber immer noch zu viel sein.«
    »Keine Angst«, wiederholte Marilyn, machte einen Schritt auf Sunset zu und umarmte sie. Sunset behielt für alle Fälle die Waffe in der Hand. Sie hoffte, sie würde nicht noch die ganze verdammte Familie erschießen müssen. Und die Hühner gleich mit.
    »Ich habe meinen Sohn verloren«, sagte Marilyn. »Ich werde nicht zulassen, dass ich auch noch eine Tochter verliere.«
    »Ich wollte es nicht tun.«
    »Ich weiß.«
    »Nein. Nein, das weißt du nicht.«
    »Du würdest dich wundern, was ich alles weiß, Mädchen.«
     

KAPITEL 3
     
     
    Der Zyklon, der Sunsets Haus zerstört hatte, wirbelte weiter durch die Bäume und trug ihr Dach und ihre Habe davon, drehte nach Osten ab, und als die Nacht hereinbrach, wütete er immer noch und warf mit Fischen, Fröschen und Trümmern um sich. Er schleuderte sogar ein Kalb gegen eine Hauswand und tötete es.
    Der Zug, der nach Tyler und weiter Richtung Westen fuhr, wurde von den Ausläufern des Sturms erfasst. Der Wind ließ Fische auf ihn herabregnen und rüttelte die Güterwaggons durch, als wären sie eine Spielzeugeisenbahn in den Händen eines bösartigen Kindes.
    Einen Moment lang sah es so aus, als würde der Zug von den Gleisen gesaugt, aber es blieb dann doch beim Durchrütteln. Die Lokomotive und ihre kleinen Waggons stampften weiter vor sich hin, genau wie der Sturm weiter vor sich hin wütete, bis er schließlich in der Nähe der Grenze zu Louisiana abflaute. Zum Schluss war er nur noch ein kühles, feuchtes Lüftchen, das ein paar schwitzende Leute erfrischte, die in der Nacht am Ufer des Sabine River saßen und angelten.
    In einem der Waggons saß Hillbilly mit seiner Gitarre und seiner Umhängetasche und musterte die beiden Typen auf der Sitzbank ihm gegenüber. Sie waren in den Waggon geklettert, als der Zug in Tyler abgebremst hatte, und jetzt, wo er durch die Landschaft ratterte und der Sturm vorbei war, fingen sie an, ihm seltsame Blicke zuzuwerfen. Zuerst hatten sie so getan, als wäre er gar nicht da, aber er hatte bemerkt, wie sie immer mal wieder zu ihm hersahen. Sie waren ihm vom ersten Moment an unsympathisch gewesen. Er hatte sie begrüßt, als sie hereingeklettert waren, aber sie hatten weder »Hallo« noch »Leck mich« gesagt. Sie hatten ein paar Flussbarsche mit den Füßen zur offenen Tür hinausbefördert, den Regen abgeschüttelt wie nasse Hunde und sich dann wie zwei Wasserspeier zu beiden Seiten der Tür hingehockt, ohne etwas zu sagen. Nur herübergeschaut hatten sie von Zeit zu Zeit.
    Hillbilly sah jünger aus, als er war, hatte aber dreißig ereignisreiche Jahre auf dem Buckel. Er war ganz schön weit rumgekommen und hatte eine Menge gesehen. Es gab keine Spelunke in Osttexas, Oklahoma oder Louisiana, in der er noch nicht mit seiner Gitarre aufgetreten war. Überall war er mit den Güterzügen herumgefahren, hatte in Wanderarbeiterlagern gegessen und gegen Geld auf den Jahrmärkten Box- oder Wrestlingkämpfe bestritten. Seine schlanke, drahtige Figur und sein weiches, hübsches Gesicht hatten so manchen starken Mann vor Ort fälschlicherweise dazu verleitet, ihn für
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