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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand
Autoren: Haruki Murakami
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waren ohnmächtig geworden. Dass die verantwortliche Lehrerin als einzige nicht betroffen war, ließ darauf schließen, dass die Konzentration zumindest für den Körper eines Erwachsenen zu schwach gewesen war.
    Allerdings war ich völlig ratlos, wie ich sie behandeln sollte, denn als Landarzt besaß ich keinerlei Fachkenntnisse, was Giftgase anging. Ich war mit meiner Weisheit am Ende.
    Telefonisch den Rat eines Experten einzuholen, war mitten im Gebirge unmöglich, und in der Tat zeigten ja bereits einige der Kinder Anzeichen dafür, dass sie nach einer gewissen Zeit von selbst wieder zu sich kommen würden. Das war zwar eine optimistische Einschätzung, aber tatsächlich blieb uns ja auch nichts anderes übrig, als sie einfach eine Weile in Ruhe dort liegen zu lassen und ihren Zustand zu beobachten.
     
    Haben Sie an der Luft dort irgend etwas Seltsames bemerkt?
     
    Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Daher inhalierte ich mehrmals konzentriert, um vielleicht doch einen ungewöhnlichen Geruch auszumachen. Aber es war nur ganz normale Waldluft. Es roch nach Bäumen. Richtig erfrischend. Auch an den Gräsern und Blumen war nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Keine Veränderungen in Form oder Farbe.
    Ich habe jeden einzelnen Pilz untersucht, den die Kinder, bevor sie bewusstlos geworden waren, gesammelt hatten. Es waren nicht besonders viele, wahrscheinlich hatten sie gerade erst begonnen. Alles ganz gewöhnliche, essbare Pilze. Ich bin schon lange Arzt in der Gegend und kenne die Pilzarten dort ziemlich genau. Natürlich nahm ich sie sicherheitshalber mit, um sie später noch von einem Experten untersuchen zu lassen. Doch soweit ich sehen konnte, waren es alles gewöhnliche, ungiftige Pilze.
     
    Wiesen die bewusstlosen Kinder außer den sich hin- und herbe wegenden Augen noch andere ungewöhnliche Symptome oder Reaktionen auf, zum Beispiel, was die Größe der Pupillen, Farbe der Augäpfel oder Frequenz der Lidschläge usw. betraf?
     
    Nein. Außer, dass die Pupillen wie Suchscheinwerfer von rechts nach links schweiften, war nichts Ungewöhnliches festzustellen. Alles funktionierte normal. Die Kinder sahen irgend etwas. Genauer gesagt, sie sahen nicht das, was wir sahen. Es schien, als sähen sie etwas, das für uns unsichtbar war. Oder nein, der Eindruck war weniger der, dass sie etwas sahen, als der, dass sie etwas »beobachteten«. Ihre Gesichter waren ausdruckslos und wirkten insgesamt extrem ruhig. Von Schmerzen oder Angst war nicht das geringste zu bemerken, was natürlich zu meiner Entscheidung beitrug, sie einfach dort liegen zu lassen und zu beobachten. Wenn sie vorläufig keine Schmerzen hatten, konnte es wohl nichts schaden, eine Zeitlang abzuwarten.
     
    Haben Sie dort mit jemandem über die Gas-Theorie gesprochen?
     
    Ja. Aber keiner hatte davon mehr Ahnung als ich. Hat man je gehört, dass jemand im Gebirge Giftgas einatmet? Der Konrektor war es, glaube ich, der die Frage aufwarf, ob es nicht die Amerikaner gewesen sein könnten. Ob sie vielleicht eine Giftgasbombe abgeworfen hätten? Daraufhin berichtete die Lehrerin, sie hätten, bevor sie in den Wald gegangen seien, einen Flugkörper am Himmel gesehen, einer B-29 ähnlich, der direkt über den Berg hinweggeflogen sei. Alle waren einhellig der Meinung, dass es das möglicherweise gewesen sein könnte. Vielleicht eine neue Giftgas-Bombe. Gerüchte über eine neuartige Bombe, die die Amerikaner entwickelt hätten, kursierten bereits in unserer Gegend. Natürlich verstand niemand, warum man so eine Bombe ausgerechnet in einer derart abgelegenen Gegend abwerfen sollte. Aber schließlich kommen auf der Welt ja auch Irrtümer vor. Was geschehen war, lag außerhalb unseres Ermessens.
     
    Später kamen die Kinder also allmählich von allein wieder zu sich, nicht wahr?
     
    Genau. Zu unserer unendlichen Erleichterung. Anfangs wälzten sie sich etwas herum und richteten sich dann unsicher auf. Keines von ihnen klagte dabei über Schmerzen. Das Aufwachen ging völlig problemlos vor sich, wie nach einem natürlichen tiefen Schlaf. Zugleich normalisierten sich nach und nach die Bewegungen ihrer Augen. Wenn ich in ihre Pupillen leuchtete, zeigten sie wieder völlig unauffällige Reaktionen. Bis sie jedoch wieder sprachen, dauerte es noch eine Weile. Sie wirkten einfach sehr verschlafen.
    Wir nahmen uns jedes Kind einzeln vor, um es zu fragen, was denn nun eigentlich los gewesen sei. Doch alle starrten uns nur verdutzt an, als würden sie zu etwas
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