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Kafka am Strand

Kafka am Strand

Titel: Kafka am Strand
Autoren: Haruki Murakami
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Hausmeister, die verantwortliche junge Lehrerin und ich zum Berg hinauf. Dazu trieben wir so viele Fahrräder wie möglich auf und machten uns jeweils zu zweit auf einem auf den Weg.
     
    Gegen wieviel Uhr kamen Sie an der betreffenden Stelle im Wald an?
     
    Da ich damals auf die Uhr geschaut habe, erinnere ich mich genau. Es war 11.55 Uhr. Wir waren so weit wie möglich mit den Rädern gefahren und dann den Pfad am Hang hinaufgerannt.
    Als wir ankamen, hatten ein paar Kinder das Bewusstsein schon halbwegs zurückerlangt und sich aufgerichtet. Wie viele ungefähr? Etwa drei oder vier. Sie waren zwar wach, aber noch nicht so richtig bei sich. Sie richteten sich nur mühsam auf und krochen auf allen vieren herum. Die übrigen lagen noch. Doch auch einige von ihnen kamen allmählich wieder zu sich. Dabei wanden sie sich langsam wie große Würmer auf dem Boden. Die ganze Szene bot einen gespenstischen Anblick. In der hellen Herbstsonne, die den seltsam ebenen Platz beschien, wirkte er wie mit einer Schablone ausgeschnitten. In der Mitte und am Rand lagen sechzehn Kinder in verschiedenen Stellungen. Einige bewegten sich, andere lagen ganz still. Das Ganze erinnerte an ein avantgardistisches Theaterstück. Ich vergaß sogar meine ärztliche Pflicht und stand mit angehaltenem Atem wie angewurzelt da. Aber nicht nur ich. Alle, die dabei waren, schienen für einen Augenblick mehr oder weniger gelähmt zu sein. Es hört sich vielleicht eigenartig an, aber ich hatte fast das Gefühl, aus Versehen Zeuge eines Geschehens zu werden, das nicht für die Augen gewöhnlicher Menschen bestimmt war. Da Krieg herrschte, mussten auch wir Landärzte jederzeit für Notfälle gerüstet sein. Was auch geschah, als guter Japaner hatte ich mich zusammenzureißen und meine Pflicht zu erfüllen. Aber diese Szene ließ mir buchstäblich das Blut in den Adern gefrieren.
    Binnen kurzem fasste ich mich jedoch wieder und hob eins der ohnmächtigen Kinder hoch. Es war ein Mädchen. Ihr Körper war völlig kraftlos, ihre Gliedmaßen schlenkerten wie die einer Stoffpuppe. Ihr Atem ging regelmäßig, aber sie war nicht bei Bewusstsein, obwohl ihre Augen ganz normal geöffnet waren und sich ihr Blick hin und her bewegte, als beobachte sie etwas. Ich nahm eine kleine Lampe aus der Tasche und leuchtete in ihre Pupillen. Nichts geschah. Ohne auf das Licht zu reagieren, bewegten sich die Augen unvermindert weiter, als verfolgten sie etwas. Seltsam. Ich hob mehrere Kinder auf, doch alle zeigten die gleichen Reaktionen.
    Dann fühlte ich ihren Puls und maß ihre Temperatur. Ich weiß noch, dass der Pulsschlag bei 50 bis 55 und die Körpertemperatur bei allen unter 36 lag. Vielleicht bei 35,5. Ja, bei Kindern in diesem Alter geht der Puls ziemlich langsam, und die Temperatur ist ungefähr ein Grad niedriger als bei Erwachsenen. Ich roch an ihrem Atem, aber es war kein ungewöhnlicher Geruch festzustellen. Hals und Zunge wiesen ebenfalls keine anomalen Veränderungen auf.
    Für mich war auf den ersten Blick ersichtlich, dass keine Vergiftungssymptome vorlagen. Keines der Kinder übergab sich, keins hatte Durchfall oder Schmerzen. Hätten sie etwas Unbekömmliches zu sich genommen, wäre bei der Zeit, die bereits verstrichen war, auf jeden Fall mindestens eines dieser drei Symptome aufgetreten. Als klar war, dass es sich nicht um eine Vergiftung handelte, fiel mir zunächst ein Stein vom Herzen. Allerdings hatten wir noch immer nicht die geringste Ahnung, was passiert sein konnte.
    Die Symptome hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit denen bei einem Sonnenstich. Im Sommer kommt es öfter vor, dass Kinder infolge eines Sonnenstichs ohnmächtig werden. Es passiert auch, dass eins umfällt und die anderen darum herum plötzlich ebenfalls umfallen wie die Fliegen, als hätten sie sich angesteckt. Allerdings hatten wir November. Außerdem waren sie mitten in der Kühle des Waldes. Wären es ein oder zwei Kinder gewesen, hätte ich diese Möglichkeit eventuell noch in Betracht gezogen, aber dass alle sechzehn Kinder einen Sonnenstich erlitten hatten, konnte ich mir einfach nicht vorstellen.
    Als nächste Möglichkeit fiel mir Gas ein. Giftgas, vielleicht ein Nervengas. Ein natürliches Phänomen oder etwas von Menschen Gemachtes …? Wo allerdings in diesem abgelegenen Wald Gas herkommen sollte, war mir ein Rätsel. Angenommen jedoch, es war wirklich Giftgas, musste es für ein solches Phänomen eine rationale Erklärung geben. Alle hatten die gleiche Luft geatmet und
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