Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jungs sind keine Hamster

Jungs sind keine Hamster

Titel: Jungs sind keine Hamster
Autoren: Frank Schmeißer
Vom Netzwerk:
kribbelte es wieder in meinem Magen. Ich bin absolut kein Feigling und in Sport bin ich auch ziemlich gut, aber im Dunkeln aus dem Fenster zu hechten und einen der glitschigen Äste zu packen, war nicht ohne. Vor allem weil unser Pflaumenbaum echt in die Jahre gekommen war. Langsam rutschte ich auf dem Fensterbrett noch ein paar Zentimeter nach vorne, bis ich mich mit den Füßen von der Hauswand abstoßen konnte. Ich visierte einen Ast an und sprang. Zwei, drei kleine Zweige schlugen mir ins Gesicht. Ich musste die Augen schließen, verfehlte mein Ziel und griff ins Leere. Krachend sauste ich nach unten und nahm ein paar Zweige mit. Dann erwischte ich einen dicken Ast und fing mich ab. Das war knapp gewesen. Ich schnaufte und lauschte. Die Gespräche in der Küche waren verstummt. Hastig angelte ich mit den Füßen nach einem Halt und kletterte um den Baum herum. Ich presste mich gegen den Stamm und sah, wie das Küchenfenster geöffnet wurde.
    „Das war mit Sicherheit nur Hannahs Katze“, hörte ich die Stimme meiner Mutter. Dann schloss sie das Fenster wieder und ich wagte den Abstieg.
    Unten angekommen zog ich mir meine Kapuze über. Der Regen wurde stärker. Vorsichtig warf ich noch einen Blick durchs Küchenfenster. Weil die eine Seite von Kartons blockiert wurde, drängte sich die neue „Traumfamilie“ an einer Seite des langen Tischs. Ein bisschen sah es so aus, als wollten sie das letzte Abendmahl nachstellen. Mit Blondchen Jette als Jesus in der Mitte. Die alte Küchenlampe ließ ihr Haar glänzen, als trüge sie einen Heiligenschein. Sie plauderten, futterten Nachtisch und sahen tatsächlich wie eine richtige Familie aus. Jette stocherte im Pudding rum, als wollte sie die Kalorien darin erstechen.
    Ich schnappte mir meinen Rucksack und machte mich auf den Weg zu meinem Fahrrad – einem alten, schwarzen, tonnenschweren Hollandrad, das meiner Oma gehört hatte. Es war schon ziemlich kaputt. Die Schutzbleche klapperten, der Lenker war locker und einen Ständer hatte es auch nicht mehr. Aber das alte rostige Biest gefiel mir. Es hatte Charme. Und außerdem musste ich es nicht abschließen. Das Ding klaute keiner. Und wenn doch, dann kam der Dieb nicht weit, weil alle paar Minuten die Kette absprang. Man musste ganz sanft und langsam treten. Rasen ging damit nicht.
    Lore wohnte nur ein paar Straßen weiter. „Ich wohne im Fuck-you-Haus“, behauptete Lore immer, wenn man sie fragte, woher sie komme. Dann lachte sie sich kaputt. Lore lebte mit ihrer Familie in einem großen Hochhaus, das umringt war von vier weniger hohen, sodass Lores Haus tatsächlich aussah wie ein ausgestreckter Stinkefinger. Wie einer, der bis in die Wolken reichte. Ein kilometerweit sichtbares Fuck you.
    Was aber eigentlich gar nicht zu Lores Familie passte. Denn Familie Ley war extrem gastfreundlich und großzügig. Obwohl sie insgesamt zu acht waren und kaum Geld hatten, freuten sie sich immer über Besuch. Da war wirklich jeder Tag ein Tag der offenen Tür. Manchmal knubbelten sich bis zu zwanzig Leute in ihrer Bude. Dann wurde gespielt, gequatscht und selbst gebackener Kuchen gefuttert.
    Als ich bei Lore ankam, war ich klitschnass und fror. Ich ließ das Fahrrad ins Gebüsch fallen, rannte zum Eingang und klingelte Sturm.
    „Ja?“, blecherte eine sehr junge Jungenstimme durch die Gegensprechanlage.
    „Ich bin’s, Hannah. Mach auf!“
    „Hannah? Kenn ich nicht.“ Es wurde gekichert. Dann hörte ich Lores Stimme: „Hey, Charly“, sagte Lore zu ihrem kleinen Bruder, „drück die Tür auf. Sofort.“
    Jungs sind sowieso behämmert, aber was ihren Humor angeht, sind sie echt auf dem Stand von Neandertalern. Und zwar egal, wie alt sie sind.

    Charly war meiner Schätzung nach etwa fünf Jahre alt und hatte noch zwei ältere und zwei jüngere Brüder. Alfons, Bert, Dirk und Emil. Lores Eltern hatten ihre Söhne nach der Reihenfolge ihrer Produktion benannt. Und zwar streng nach Alphabet. Was bedeutete, dass Alfons der älteste, Bert der zweitälteste und Emil der jüngste von Lores Brüdern war. Eigentlich hätte man sie aber auch einfach nur durchnummerieren brauchen. 1, 2, 3, 4, 5. Die waren nämlich ein bisschen wie meine Katze. Die hörten eh nie und auf ihren Namen schon mal gar nicht. Also konnte man sich den eigentlich auch sparen.
    Der Türöffner summte und ich drückte die Tür auf. Der Flur war leer. Verschiedene Fernseher plärrten durch das Treppenhaus. Von oben hörte ich jemanden wütend schreien. Ich hoffte
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher