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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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ihn in ihre Traumwelt zu entrücken. Es wurde schon bemerkt, daß die Religion des Herzens nicht mehr, wie die alte römisch-christliche Religion, zwei Welten duldet, eine heilige und eine unheilige, eine des Geistes und eine der Materie oder der Sinnlichkeit, sondern daß sie die Materie vergeistigt und alles Sinnliche heiligt.
    Wenn das Herz erklärt, der Mensch sei nur um seiner selbst willen da und lebe nur um zu leben, nicht um Anderen anzugehören und sich von Anderen verbrauchen zu lassen, so ist diese Polemik nicht gegen die den Menschen anfahrenden höheren Mächte überhaupt, sondern nur gegen die in der Welt bis dahin anerkannten höhern Mächte, gegen die Priesterreligion, gegen den Staat, gegen die conventionelle Mode, gegen die Edelmannsehre, gegen die feudale Treue, gegen die ceremoniöse Sitte gerichtet, nicht aber gegen die ewigen Mächte des Herzens; vielmehr macht das Herz alle äußerlich von ihm verworfenen Mächte, Religion, Recht, Anstand, Ehre, Treue, Sitte zu seinen eigenen, innerlich in ihm, und also ganz unwiderstehlich gebietenden, unentrinnbar knechtenden Mächten. Sich selbst leben heißt also dem Herzen, nämlich dem idealen Herzen, dem Herzen als höherer Macht, leben, und leben um zu leben heißt, leben um zu genießen, nämlich aller Gnadengaben des göttlichen, ewigen Herzens zu genießen.
    Im Namen des Herzens werden nun auch alle irdischen Güter genossen; man genießt an ihnen nicht sinnliche Freuden, sondern Genuß geben nur die „wahren" Freuden, d. h, Freuden, welche das Herz schenkt oder wenigstens bezaubert und verklärt. Diese Freuden werden auch die „einfachen" Freuden genannt. Je einfacher, unschuldiger, kunstloser sie an sich sind, desto mehr kann das Herz daran thun. Das Herz verwandelt jeden Milchnapf in einen Nektarkelch. Zu den einfachen Freuden gehört denn auch vorzüglich Alles, was an die eingebildete Natur und die sogenannte „natürliche Bestimmung" des Menschen, an das patriarchalische Leben erinnert, das Aehrenfeld, der Gesang der Schnitter, jedes Schaf und jeder Düngerhaufen. Sie heißen daher auch die „natürlichen" Freuden.
    Das empfindsame Herz liebt in der wilden Natur das Unermeßliche, den Berggipfel, die Fernsicht, die leere Luft, das Meer, aber in den menschlichen Werken das Beschränkte und Enge. „Der Geschmack an Fernblicken (nämlich in Gärten) entspringt aus dem Hange, sich nur da zu gefallen, wo man nicht ist. Der Mann von Empfindung aber hat keine solche Unruhe, und wenn er sich da, wo er ist, wohl befindet, fällt es ihm nicht ein, wo anders sein zu wollen. Wer nicht gern die schönen Tage an einfachen und angenehmen Orten zubringen mag, hat ganz gewiß keinen reinen Geschmack und keine gesunde Seele". „Keine gesunde Seele,“ d. h. keine „schöne", keine „empfindsame" Seele. Gegen die Sehnsucht in's Jenseitige, Himmlische, Geistige wäre Saint-Preux's Polemik ganz richtig; aber so ist sie nicht gemeint. Als Polemik gegen das freie Belieben ist sie nur ein Ausdruck der Knechtschaft, in welcher die schöne Seele schmachtet. Was soll mich hindern, in's Weite zu wollen, wenn es mir am Orte zu enge ist? Jeder dehnt sich gern aus, soweit er kann. Aber das empfindsame Herz zieht sich immer zusammen, am liebsten ganz in sich hinein, in den kleinsten Punkt; in sich hat es die Unendlichkeit.
    In dem Streben nach Genuß und steter Erhöhung des Genusses verfällt das empfindsame Herz auf tausend Verfeinerungen. Julie legt sich geflissentlich Entbehrungen auf, um nach der Entbehrung desto größeren Genuß zu haben. Clara preist die Liebenden glücklich, die, nachdem sie das Höchste der Liebe genossen, getrennt werden, weil sich ihnen nun in der Erinnerung der Genuß ewig wiederhole, und dieser Genuß ein weit süßerer sei, als ihn das Leben in der Wirklichkeit je bieten könnte.
    Die Empfindung, die innere Anschauung ist der eigentliche Sitz des Genusses für die schöne Seele. Der kalte Wolmar selbst schmeckt diese Art des Genusses, die ihm als unmittelbarer Genuß versagt ist, mittelbar im Mitgenusse. Die, Anderen aber, wie genießen sie! Bis zum Schwindel! bis zu Ohnmachten! Auch ein ruhigerer, aber desto süßerer idealer Genuß kommt vor. Saint-Preux genießt in Juliens „Elysium" geistig viel mehr, als ein Mensch je sinnlich genießen könnte. „Die Seele", sagt er, „genießt in der Anschauung sittlicher Ideen eine Art Wohlsein, dem kein anderes Vergnügen gleichkommt, das Gefühl der Zufriedenheit mit sich."
    Eduard Bomston
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