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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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die aber der nächste Augenblick zu Schanden macht. Dies geht bei Saint-Preux bis zur äußersten Lächerlichkeit, und Clara sagt es ihm; es wundere sie gar nicht mehr, sagt sie, ihn stets ganz entzückt von sich zu sehen, stets mit einer Thorheit eben fertig geworden und auf dem Sprunge klug zu werden; er bringe schon lange sein Leben damit hin, sich den gestrigen Tag zum Vorwurf zu machen, und sich für morgen das Beste zu versprechen. Die schöne Seele ist vom Augenblick gebunden. Der Augenblick ist eine Macht, die über sie auf ewig entscheidet. Alles schafft sie sich zu einer Macht um, und durch alle Mächte, die sie schafft, ist sie gebunden, auf ewig. Sie kann nichts wieder los werden, was je sie eingenommen hat. Sie ist verliebt in ihre Bande, wie schmerzlich diese seien. Es sind heilige Bande, und sie fühlt sich in ihnen selig. In ihrer Schwachheit dünkt sie sich gesund. Ihre Gebundenheit ist in ihrem Gefühle der Zustand der Gesundheit. In dieser Gebundenheit dünkt sie sich frei, frei von der Welt und deren Gemeinheit. Sie ist selig in ihrer Ungemeinheit.
    Die schönen Seelen sind ungemeine, seltene Menschen. Sie wissen es: sie sagen es einander selbst fortwährend. Wolmar nennt Julie und Saint-Preux seltene Menschen. Lord Eduard wird wiederholt der ungewöhnlichste, der tugendhafteste, der größte der Menschen genannt. Auch Wolmar wird als ein seltener Mensch gepriesen. Sie adoriren sich alle gegenseitig, sie bewundern gegenseitig ihr „aus dem Gewöhnlichen" herausgehendes Wesen, sie sagen einander, daß man sie „nicht nach den gewöhnlichen Regeln", sondern „nach ihrem ganz einzigen Charakter" beurtheilen, und sein Betragen unter einander danach abmessen müsse.
    Ihre Ungemeinheit besteht darin, daß sie geistig sind, im Geiste leben, nur dem Geiste dienen, aber dem Geiste in der Form des Herzens. Das Herz entscheidet über Alles, über Tugend und Pflicht, steht über der Vernunft, oder ist vielmehr selbst die Vernunft, hat Macht überAlles, bestimmt den Glauben, ist das Gewissen, ist Eigenthümer aller heiligen Mächte und ewigen Güter, aller himmlischen und irdischen Dinge, ist die vollkommenste, sicherste, einzige Richtschnur, das Urbild, der Leitstern: nämlich nicht das Herz des Einzelnen, das unstäte Herz, sondern das ewige, das vergötterte Herz, das Herz an sich, das Herz als Geist.
    Wolmar, der hiervon eine Ausnahme zu machen scheint, macht in der That doch keine: er gehört wesentlich in den Kreis der schönen Seelen, er ist das negative Princip des Herzens, das wie der Teufel Gottes Herrlichkeit, so die Herrlichkeit des Herzens durch sein Widerstreben anerkennt und offenbar macht. Die Unerschütterlichkeit Wolmars ist nur der Trotz des Herzens, das sich gegen sich selbst empört. Wolmar repräsentirt den Egoismus des kritischen Herzens, dem Egoismus des gläubigen Herzens gegenüber: er genießt ebenso wie die schönen Seelen, obwohl Reflexionen, statt der Gefühle, er ist listig wie das religiöse Herz, ja er ist die incarnirte List des Herzens selber. Daher huldigt er dem Herzen; er möchte gern anders sein, als er ist, er kann nur nicht; er bedauert, daß ihm ein Gut entgeht, dessen er die anderen schönen Seelen genießen sieht; er erkennt es an, daß die Empfindsamkeit die größte Wonne und Seligkeit ist. Er ist Atheist, d. h. ein Leugner der Göttlichkeit des Herzens. Der Ungläubige ist nicht frei vom Glauben: er wehrt sich nur gegen den Glauben. Daher wird auch Wolmar zu guter Letzt bekehrt. Und der Triumph des heiligen, schönseligen Herzens ist vollendet.
    Es wird sich zeigen, wie das Herz in seinem Triumph sich selbst verschlingt und aufgiebt, sich in den Abgrund seiner selbst verliert. Es muß aber zuerst noch der Weg betrachtet werden, auf welchem es zu seinem Siege dringt, die Arbeit, durch welche es die Palme erringt, der Kampf des Herzens.
    *
    Das Ziel, nach welchem die schöne Seele rennt, ist— das „höchste Glück". Sie hat keinen anderen Zweck auf Erden, als das höchste Gut zu erlangen, nämlich ihren Frieden, d. h. Ruhe. Arbeitslosigkeit, ununterbrochenen Genuß, also Genuß, der in Wahrheit keiner ist, kurz mit dem rechten Worte gesagt, den Tod.
    Es scheint oft, als ob auch irdische Zwecke ihrer selbst wegen verfolgt würden, so die Zwecke des Hausstandes, die Zwecke des Augenblicks, des sich selbst genießenden wirklichen Lebens. Aber diese Zwecke sind selbst nur ideale Zwecke: das angeblich wirkliche Leben ist nur eine in die Traumwelt des Herzens
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