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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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Lauretta gelitten hätte. Eine einzige wirkliche That, ja ein Wort, ein Augenblick stürzt alle Träume des Herzens über den Haufen, und die Ewigkeiten der Herzenswelt stehen unter dem Zauber der verachteten Wirklichkeit. Tausend böse Gedanken vernichten die Keuschheit nicht, aber der erste wirkliche Fehltritt thut es …. Man vergißt sich einen Augenblick, und man ist verloren .... Ewige Verachtung trifft Den, der sich einen Augenblick vergessen und das, was er heilig halten sollte, verachtet hat."
    Anerkennen aber kann das empfindsame Herz die Wirklichkeit nicht als berechtigt; denn die Wirklichkeit ist das Gemeine, es selbst aber ungemein. Es theilt der Wirklichkeit nur die Rolle des Schergen, des Büttels zu. Es behandelt sie wie Shakespeare die gemeinen Leute, welche dazu dienen, die Handlung zur Entscheidung zu bringen, aber doch nur Clowns sind, gleichsam außerhalb des Stücks stehen und in Prosa sprechen, während die Helden stets auf den geheiligten Stelzen der Jamben einhergehen.
    Die romantische Poesie und die Religion des Herzens sind ohnehin auf einem und demselben Baume gewachsen. Sie sind Entwickelungsformen des christlichen Geistes. Er, der in Allem die Materie von sich, das Irdische vom Himmlischen, das Gemeine vom Ungemeinen, Heiligen unterscheidet, hat auch die schöne Seele und ihre Gefühlswelt hervorgebracht. Ungemein zu sein, sich von der ganzen Welt zu unterscheiden und sich in dem Reichthume der eigenen Gefühle zu bespiegeln, darin besteht die Eigenheit Derer, die mit einer schönen Seele begabt sind. Ihre schöne Seele ist das, was sie ungemein macht. Das ewige Urbild und die ewigen Güter, der Naturzustand und die Traumwelt des Herzens, das Alles ist die Schöpfung und das Eigenthum der schönen Seele.
    *
    Die schöne Seele ist in dem Bisherigen schon ziemlich vollständig geschildert. Die einzelnen Züge dürfen nun nur zusammengefaßt werden, und mit wenigen hinzugefügten Strichen wird sich das Bild vollenden lassen.
    Die schöne Seele klagt die Philosophie an, daß diese den Cultus des Volks verschmähe, und sich aus Eitelkeit, aus Hochmuth einen eigenen, aparten Cultus mache, aber die schöne Seele selber thut nichts Anderes als das, was sie der Philosophie zum Vorwurf macht: sie sondert sich von dem unempfindsamen Pöbel ab, und setzt ihren Ruhm und Stolz darein, anders zu sein, als andere Leute, als diese Zöllner, als die Weltmenschen, diese Heuchler und Egoisten.
    Sie ist nicht weniger heuchlerisch und egoistisch; aber ihre Heuchelei und ihr Eigennutz ist entweltlicht und verklärt, vergeistigt, oder vielmehr entsinnlicht und verherzlicht. Der Eigennutz der schönen Seele läßt sich nur durch Höchstes, Feinstes, Vollkommenstes, Ewiges befriedigen. Die schöne Seele besitzt, wie Clara sagt, eine „verfeinerte" Eigenliebe, welche alle saueren Tugendübungen zu vergüten weiß. z.B. die um der Liebe willen gebrachten Opfer, indem sie den Opfernden zu sich selber sagen läßt: ich bin der Mann, der das Alles vermag, ich bin fähig, so wahrhaft, so aufopfernd zu lieben, und indem sie ihm so ein dauerhafteres und zärtres Vergnügen verschafft, als ihm der Besitz der Geliebten gewähren würde.
    Der Egoismus der schönen Seele unterscheidet sich also von dem Eigennutze der niederen Triebe und Begierden. Sie benutzt auch diesen, aber nur für ihre heiligen Zwecke, macht sich auch die gemeinen Interessen dienstbar, aber nicht für sich, sondern zu Ehren der Tugend. Der Tugenddienst macht sie ungemein. Ich bin egoistisch, räumt sie ein, ich strebe nach Gutem, nach Genuß, aber nur nach den edelsten Gütern und dem seligsten Genusse: ich bin auserwählt, denn ich trage die Livree der Tugend, und so unterscheide ich mich vom gemeinen Egoisten.
    Die schöne Seele ist ungemein. Nichts ist ihr verhaßter, als sich auf die Erde herabzulassen, und sich als einen Menschen gemeinen irdischen Schlages zu geberden. „Könntest du dich entschließen, nachdem du alle Entzückungen der Seele gekostet, das Leben eines gewöhnlichen Menschen auf Erden hinzuschleppen?" Als Julie von ihrem Schmerz ganz niedergedrückt ist, schreibt Clara an Saint-Preux! „Der Schwung ihrer Gefühle ist gelähmt, das himmlische Feuer, das in ihr lodert, erloschen. Dieser Engel ist nichts mehr als — ein bloßes Weib. Ach, was für eine Seele haben Sie der Tugend entrissen!"
    Die ungemeinen Seelen sind von Hause aus ungemein. Sie sind von schönen Anlagen, von Kindheit an ohne böse Neigungen, blos für die Tugend
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