Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
übersetzte Wirklichkeit, das Reich dieser Zwecke ist „die platonische Republik" der schönen Seele.
    Im Verfolgen ihres Zieles hat die schöne Seele einen schweren Kampf zu bestehen. Das redliche Herz, das einzelne, für die Tugend nur geschaffene, nicht sie besitzende Herz ist trügerisch. Die Stimme, die in ihm von der Wahrheit zeugt, die Stimme der Natur ist mit sich selbst im Widerspruch. Julie folgt z. B. der Stimme der Natur, im dem sie sich ihrem Geliebten ergiebt, und der Stimme der Natur, indem sie ihrem Vater gehorcht, obwohl dieser, wie ihr Saint-Preux vorhält, die Stimme der Natur verläugnet. Die Stimme der Natur wird sodann selbst zu einer trügerischen. Die natürlichen Triebe werden zu natürlichen Begierden, von denen sich das Herz frei machen will, um sich dem Dienste einer höheren Macht, der Macht der verklärten Natur, in welcher das Urbild wiederhergestellt ist, und der Macht der Tugend, welche diese Wiederherstellung vollbringt, zu widmen. Das Herz geräth so in Verwirrung, entweder wenn, wie bei Julien, das Urbild verdunkelt wird durch den Streit der natürlichen Regungen, oder wenn, wie bei Lauretta, das Urbild, das durch ein unglückliches Schicksal von Anfang an verdunkelt war, plötzlich hervorbricht und an der Schmach des Zustandes, den es vorhanden findet, seinen Gegner hat.
    Nun ist Kampf im Herzen. Das Herz wird sophistisch und haltungslos. Diesen Kampf schildern die drei ersten Abteilungen der Neuen Heloise und die Abenteuer Bomstons in den mannichfaltigsten Abwechselungen. Der Gegenstand des Kampfes ist die Besiegung der Begierden, die Ueberwindung des eigenen Herzens, um die niedere Neigung der höheren, den einzelnen Wunsch dem allgemeinen Wunsche (dem inneren Frieden), den augenblicklichen Genuß dem ewigen Genusse (der Seligkeit), oder, wie es immer genannt wird, sich der Pflicht zum Opfer zu bringen. Das Herz ist schwach. Gegen die Begierden, die Interessen, die Leidenschaften wäre nichts auszurichten, wenn man nicht sie selbst gebrauchte, um sie listig durch sich selbst zu besiegen. Man muß die edlere Leidenschaft wecken, um die unedlere zu bemustern, man muß sich Interessen schaffen, welche jedes niedere Interesse von selbst ausschließen und die Ausschließung desselben zum höchsten Herzensinteresse machen. Nur muß man sich bei der Anwendung dieser Regel hüten, auch Laster durch Laster verdrängen zu wollen, denn dadurch würde man nichts erreichen, als daß man zuletzt alle Laster bei einander hätte. Das Laster kann nur durch die Tugend überwunden werden. Man muß an die Stelle eines Lasters eine Tugend setzen, indem man die Uebung dieser Tugend dem Herzen zum Interesse macht. Der Kampf wird also am sichersten durch List geführt.
    Wenn sich das Herz die Erfüllung der Pflichten zu seinem höchsten Interesse und den Tugenddienst zu seiner zweiten Natur gemacht hat, so hört es darum doch nicht auf, immer schwach zu sein. Schwäche ist sein Wesen. Das Verbrechen hat für das Herz keinen Reiz, es macht ihm vielmehr Grauen, und dennoch erliegt das Herz dem Bösen aus Schwäche; denn Schwäche ist ja gerade das Gute an ihm: es erliegt aus Güte, aus Mitleid. 'Das Mitleid macht Julie schwach: sie erliegt dem Geliebten aus Gram über seine Schmerzen. „Das Mitleid", sagt sie selbst, „hat mich zu Grunde gerichtet". Und ein anderes Mal: „Ich hätte nie gehofft, in meinen Fehltritten ein Glück zu finden: ich fühlte, daß mein Herz für die Tugend geschaffen war, und ohne sie nicht glücklich sein konnte: ich unterlag aus Schwäche, nicht aus Irrthum". Auch da sie sich geheilt dünkt, als Gattin Wolmars, muß sie sich noch vor demselben Versucher hüten, vor dem Mitleid mit Saint-Preux, den sie unglücklich gemacht hat; ihre Reue hierüber könnte Ursache zu einem abermaligen Falle werden.
    Die Schwäche ist in Wahrheit nur Mangel an Selbstvertrauen. Feigheit. Dies wird häufig eingestanden. Und Rousseau sagt in den Abenteuern Bomstons: „Wer den Tod nicht fürchtet, erliegt nicht; nur weil wir feige, nicht weil wir schwach sind, erliegen wir den Sinnen". Aber sind nicht die ewigen Mächte der Traumwelt, die Vorstellungen des Herzens, mächtiger als der Tod? Gegen sie und ihr Blendwerk hat das Herz nichts aufzubieten. „Das Gewissen vermag nichts gegen Schwachheit. Gegen das Verbrechen ist man stark genug, aber der Schwäche kann man sich nicht erwehren".
    Die Schwäche führt zur äußersten Verzweiflung. „In der furchtbarsten Verzweiflung", sagt Julie,
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher