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Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
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nicht wieder von ihnen los. Bei Wolmar zweifelt Niemand, daß wirklich nur seine eigenen Maximen ihn beherrschen; bei Eduard entgeht es Keinem, daß er sich einbilde, Maximen zu folgen, während er den Eingebungen seines Herzens folgt, die ihn beherrschen, und nach denen er seine Maximen modelt; bei Saint-Preux kommt es nicht zu Maximen, sondern es sind seine guten Vorsätze, bloße Möglichkeiten von Maximen, die ihn in Athem erhalten. Das Herz macht aber von solchen Erfahrungen nie eine allgemeine Anwendung. Daß überhaupt seine ganze innere Welt ein böser Traum, ein Alp sein, den es, sich aus seinem Schlaf aufraffend, abschütteln würde, merkt es nie.
    So oft es sich nach seiner inneren Angst und Erschlaffung wieder beruhigt und ermuthigt fühlt, ist es ihm unmöglich, dies aus einer natürlichen Ursache herzuleiten: der übernatürlichen Hülfe dankt es seine Errettung. Julie weiß recht gut, daß Wolmar ihr und Saint-Preux zu Hülfe gekommen und ihnen zu einem Siege verholfen hat, den, sagt sie, „wir mit unserer eigenen Kraft nie errungen hätten". Hat Wolmar geholfen, was braucht es noch einer übernatürlichen Kraft? Vergebene Worte! Die übernatürliche Kraft muß dennoch dabei im Spiele sein. Eduard hilft sich selbst im Augenblicke der Anfechtung: er droht sich zu tödten, wenn die Marquise nicht mit ihren Verlockungen aufhören würde. Gut, aber hätte er das gekonnt, wenn ihm nicht die Tugend beistand? Saint-Preux hat hundert Mal an dem Tage der Wasserfahrt das Andenken an Eduards Tapferkeit im Seelenkampfe zu Hülfe gerufen, und mit Hülfe dieses Andenkens gesiegt; d. h. er hat seine Seele mit einem anderen Gegenstande beschäftigt, als mit einem gefährlichen. O pfui, welche Auslegung! Nein, die Tugend hat ihm beigestanden. Julie geräth in der Kirche in eine feierliche Stimmung, die begreiflich genug ist, und kommt dadurch auf andere Gedanken als zuvor; und siehe da, es ist eine himmlische Eingebung, ein übernatürlicher Beistand, welcher sie von der Bahn des Bösen ablenkt.
    Uebrigens gesteht es die schöne Seele indirecterweise selber ein, daß sie im Grunde auf höheren Beistand kein Vertrauen setzt: denn unaufhörlich wiederholen sich die Rathschläge, Versuchungen doch ja zu meiden, fleißig die Sinne zu überlisten und alle Interessen der Seele für die Tugend zu gewinnen. Auch allerlei Nebenmittelchen werden angewendet. Dem Saint Preux räth Julie, da sie nach dem Vorgange im Hause des sogenannten Colonel ihn ermahnt, er solle doch künftig im Augenblick der Schwäche sich in Gedanken m den nächsten Augenblick versetzen, um das Blendwerk des gegenwärtigen Augenblicks zu zerstreuen. Clara schützt sich gegen nächtliche Versuchungen der Einbildungskraft durch Erfindung von Schelmstücken, die sie am nächsten Tage ausführen könnte. Viel Anstalten, um der höheren Macht alle Bemühung zu ersparen!
    Zuletzt erweist sich dann auch noch, daß der Sieg gar kein Sieg war, sondern nur ein Selbstbetrug, wie denn z. B. Saint-Preux'sund Juliens angeblich besiegte Liebe gar nicht besiegt ist. Aber das Alles erschüttert den Glauben an die übernatürliche Hülfe dennoch nicht.
    Man findet in dieser Vorstellung Trost; darum läßt man nicht von ihr, und indem man fühlt, daß man von ihr nicht lasse, bildet man sich ein, sie sei es, die nicht von dem Menschen lasse. Der Mensch hält seine Einbildung fest, und glaubt, eine höhere Macht halte ihn. Julie sagt, von dieser fixen Idee beherrscht: „Es ist nicht so leicht, als man denkt, der Tugend zu entsagen; sie quält die, welche von ihr weichen, noch lange Zeit".
    Da fixe Idee immer wiederkehrt, sich immer wiederherstellt, so glaubt sich die schöne Seele, trotz aller Verirrungen und Schwächen, von der höheren Macht fortwährend geliebt. Die höhere Macht verlangt aber nichts als Dienstbarkeit, verlangt nichts als Treue. „Saint-Preux's Seele war schwach, aber gesund und voll Liebe zur Tugend, und damit kann der höchste Richter zufrieden sein". Dem treuen Diener verzeiht der Herr alle einzelnen Fehler gern, wofern der Diener nur nicht die Sünde wider den heiligen Geist begeht, d. h. dem Herrn den Dienst aufsagt. Den treuen Diener belohnt der Herr, nämlich — mit seiner Gnade, mit seinem holden, bezaubernden Lächeln. Der Lohn derTugend ist der Tugendgenuß.
    *
    Die schöne Seele ist vorzugsweise die genußliebende Seele.
    Sie verschmäht auch den sinnlichen Genuß nicht, sobald es ihr gelingt, ihn in die Form eines Herzensgenusses zu bringen,
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