Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Julie oder Die neue Heloise

Titel: Julie oder Die neue Heloise
Autoren: Jean-Jacques Rousseau
Vom Netzwerk:
erklärt für den höchsten menschlichen Genuß, den der Weisheit. Sie haben Alles genossen, sagt er zu Saint-Preux, was es auf Erden zu genießen giebt. „Es bleibt Ihnen nichts mehr zu empfinden und zu sehen übrig, was werth wäre Sie zu beschäftigen: kein Gegenstand, der Ihre Beobachtung verdiente, als Ihr eigenes Selbst und kein Genuß, der Ihres Strebens werth wäre, als der der Weisheit." Auch diese stoische Weisheit hat keinen anderen Inhalt als das erwähnte — Gefühl der Zufriedenheit mit sich.
    Aber dieses Gefühl beglückt die schöne Seele nur in seltenen kurzen Augenblicken. In ewiger Unruhe bringt sie ihre meiste Lebenszeit hin. Kampf und Erholung, Angst und Hoffnung, Täuschung im Genuß und neues verfeinerndes Verlangen bestürmen sie in unablässigem Wechsel. Ein unüberwindliches Gefühl von innerer Leerheit jagt sie fort und fort, einem stets entfliehenden und unerkannten Ziele nach.
    *
    Alles hat sich trüglich erwiesen. Dem Schein der Welt entronnen, hat sich das Herz durch seinen eigenen Schein äffen lassen. Es kann sich selbst nicht trauen und keiner seiner ewigen Mächte; es treten Augenblicke ein, in denen es an der Tugend zu zweifeln wagt; jede Versuchung, jede Erinnerung macht ihm Angst; das Selbstvertrauen könnte Vorspiegelung des Lasters sein, das ausgeht, um die Seele zu fangen; die Demuth könnte nicht minder eine Falle sein, welche der Hochmuth der Seele stellt. Die Vernunft ist keine natürliche Leuchte. Das Gewissen selbst führt irre, steht unter dem Einfluß von Vorurtheilen und Stimmungen. Das ewig Schöne und Gute ist nicht mit Sicherheit zu erkennen. Das Gefühl verlebtet nicht minder oft als die Vernunft. Die eigene Kraft reicht nicht aus, um das Böse, das man haßt, zu meiden. Die Zukunft ist unbekannt, und wenn man weiß, wie man zu handeln hat, so fehlt die Macht, um auszuführen was man vorhat. Der Himmel giebt keine äußeren Zeichen, so sehr sich das Herz nach einer unzweideutigen Offenbarung sehnt. Kein Rath, kein Trost, keine Hülfe! Bei der Tugend, bei der Liebe ist das Alles nicht zu finden. Das Herz muß über diese höheren Mächte hinaus, zu der höchsten Macht aufsteigen, welche Weisheit und Vermögen das Angerathene auszuführen in sich vereint.
    Julie betet, und plötzlich weiß sie, wo Alles zu finden ist, was sie sucht. Bei dem wahren Urbild, in dessen Betrachtung erst die Seele sich vollkommen reinigt und erhebt, bei dem Urquell alles Guten selber, bei dem höchsten Wesen, bei Gott.
    So führt die Religion des Herzens wieder in die allgemeine Religion, oder, wie es auch genannt wird, in die reine, vernünftige Religion zurück. Das Herz kann sich bei der Vergötterung seiner selbst nicht beruhigen, es findet sich gezwungen, ein ewiges Wesen wieder ganz bestimmt als ein von ihm selbst unterschiedenes Wesen, als eine besondere Persönlichkeit anzubeten. Erst der Glaube an Gott. sagt Julie, giebt den Tugenden einen Werth. Gewiß! denn bei dem Lohn, der in den Tugenden selbst liegen soll, kann sich das Herz zuletzt doch nicht beruhigen. Es kann sich seinen Lohn erst als gewiß versprechen, wenn es sein Wesen ganz von sich getrennt und sich als eine besondere persönliche Macht vor Augen gestellt hat.
    Es werden in der Neuen Heloise beträchtliche Anstrengungen gemacht, das Dasein Gottes zu beweisen. Die Hauptpunkte sind diese:
    Man könne Gott gar nicht im Ernste läugnen, sondern nur über ein Wort wie Dasein disputiren. Ganz richtig! Wer Gott läugnet, setzt Gott voraus. Wer aber von nichts weiß und wissen will als von derWelt, der läugnet zwar Gott nicht, aber er erkennt ihn auch nicht an. Er erkennt nichts an, als wovon er weiß und er weiß nur von der Welt.
    Gott offenbart sich in seinen Werken. Wie aber, wenn ich die Welt gar nicht als ein Werk ansehe, sondern als das was von selbst ist und allein ist? Wenn ich sage: du suchst etwas hinter der Welt, während hinter ihr nichts ist?
    Gott offenbare sich im Innern des Menschen, im Gefühle. Dies ist der Beweis aller Beweise, Saint-Preux sagt selbst: Kein Beweis verfange etwas, wenn der Beweis des Gefühles
[La preuve du sentiment.]
nicht zum Grunde liegt. Gut! Mein Gefühl beweist aber nur sich selbst. Wenn mein Gefühl Gott beweist, so ist Gott nichts weiter als „mein Gefühl". Und was kann denn das Gefühl beweisen, nachdem es als das trügerische Wesen erkannt ist, vor dessen Wandelbarkeit man eben Zuflucht sucht bei einem ewigen Wesen? Wenn Gott sich offenbart, so ist die Frage: wo spricht er?
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher