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Julia

Julia

Titel: Julia
Autoren: Anne Fortier
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zurückkommen, doch bevor ich mich auch nur umdrehen konnte, begann sich der Untergrund, auf dem ich stand, von seiner Umgebung zu lösen. Ehe ich wusste, wie mir geschah, war der Boden nicht mehr da, und ich stürzte schnurstracks hinein ins Nichts. Ich war viel zu verblüfft, um zu schreien. Es kam mir vor, als wäre der Klebstoff, der die Welt zusammenhielt, schlagartig verpufft, und in diesem neuen Chaos nichts mehr übrig als herumwirbelnde Trümmer, ich und die Schwerkraft.
    Wie weit bin ich gefallen? Am liebsten würde ich sagen, dass ich durch die Zeit selbst fiel, durch viele Leben, Tode und vergangene Jahrhunderte, doch nach herkömmlichen Maßstäben betrug die Fallhöhe wohl nicht einmal fünf Meter. Zumindest hat man mir das gesagt. Angeblich hatte ich Glück, weil mich weder ein Felsen noch ein Dämon in Empfang nahm, als ich in die Unterwelt gepurzelt kam, sondern der alte Fluss, der einen manchmal aus nächtlichen Träumen weckt und dessen Anblick nur sehr wenigen Menschen vergönnt ist. Sein Name ist Diana.
     
    Man hat mir erzählt, Alessandro sei sofort, nachdem ich über den Rand des abbrechenden Bodens gestürzt war, hinter mir hergesprungen und habe sich dabei nicht einmal die Zeit genommen, seine Ausrüstung abzulegen. Als er in das kühle Wasser eintauchte, wurde er durch das ganze Gewicht - die Weste, die Stiefel, die Waffe - nach unten gezogen, so dass er einen Moment brauchte, bis er wieder hochkam und nach Luft schnappen konnte. Während er gegen die starke Strömung ankämpfte, gelang es ihm, eine Taschenlampe herauszuziehen, und so fand er schließlich meinen leblosen Körper, der an einem hochstehenden Felsen hängen geblieben war.
    Alessandro schrie zu den anderen Polizeibeamten hinüber, sie sollten sich beeilen, und ließ sie ein Seil zu ihm hinabwerfen und uns beide zurück in die Krypta des Doms hieven. Für alles und jeden taub, legte er mich inmitten der Trümmer auf den Boden, presste das Wasser aus meinen Lungen und begann mich wiederzubeleben.
    Janice, die danebenstand und ihn bei seinen Bemühungen beobachtete, erkannte den Ernst der Lage erst, als sie die anderen Männer grimmige Blicke wechseln sah. Sie alle wussten, was Alessandro noch nicht akzeptieren konnte: dass ich tot war. In dem Moment spürte Janice, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen, und nachdem sie erst einmal angefangen hatte zu weinen, konnte sie nicht mehr aufhören.
    Am Ende stellte Alessandro seine Wiederbelebungsversuche ein und hielt mich nur noch im Arm, als wollte er mich nie wieder loslassen. Er streichelte meine Wange und sagte mir all die Dinge, die er mir hätte sagen sollen, solange ich noch lebte. Dabei war es ihm völlig egal, wer zuhörte. Laut Janice sahen wir in jenem Moment fast so aus wie die Skulptur von Romeo und Giulietta, nur dass meine Augen geschlossen waren und Alessandros Gesichtszüge vor Kummer verzerrt.
    Als sie merkte, dass er die Hoffnung verloren hatte, riss meine Schwester sich von den Polizeibeamten los, die sie gerade zu trösten versuchten, und rannte zu Bruder Lorenzo hinüber.
    »Warum beten Sie nicht?«, schrie sie den alten Mann an, während sie ihn fest an den Schultern packte und schüttelte. »Beten Sie zur Jungfrau Maria und sagen Sie ihr ...« Janice brach ab, weil ihr klar wurde, dass er sie nicht verstand. Sie trat ein paar Schritte zurück, blickte zu der gesprungenen Decke empor und schrie, so laut sie konnte: »Lass sie leben! Ich weiß, dass du das kannst! Lass sie leben!«
    Als auch von oben keine Antwort kam, sank meine Schwester hysterisch weinend auf die Knie, und kein Mann in der ganzen Schar wagte es, sich ihr zu nähern.
    In dem Moment spürte Alessandro etwas. Es war kaum mehr als ein leichtes Zittern, und vielleicht ging es von ihm selbst aus, und nicht von mir, aber es reichte, um ihn von neuem hoffen zu lassen. Während er meinen Kopf in seinen Händen wiegte, sprach er wieder mit mir, erst zärtlich, dann drängend.
    »Sieh mich an«, bat er, »sieh mich an, Giulietta!«
    Man hat mir erzählt, dass ich, als seine Worte schließlich zu mir durchdrangen, weder hustete noch keuchte, sondern einfach nur die Augen aufschlug und ihn ansah. Sobald mir dämmerte, was um mich herum vorging, flüsterte ich angeblich lächelnd: »Das wird Shakespeare aber nicht gefallen.«
    Das alles erfuhr ich erst später. Ich kann mich an fast gar nichts erinnern - nicht einmal daran, dass Bruder Lorenzo niederkniete, um mich auf die Stirn zu küssen, und Janice wie
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