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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Autoren: Paul Moor
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hatte. War ihm sein eigener Tod letzten Endes lieber als sein Leben geworden? Die weitaus meisten Menschen in der Bundesrepublik, auch andere Schwerverbrecher, fühlten sich gerechtfertigt darin, Jürgen Bartsch zu verabscheuen. Welche Rolle hatte solche Feindseligkeit – auch unbewußt – im Operationssaal gespielt?
    Der Prozeß gegen Dr.   Hollenbeck hat nun bewiesen, daß Jürgen Bartsch und auch Brigitte Wesselink an nichts Dramatischerem als ganz gewöhnlicher, aber in diesen Fällen besonders gravierender Schlamperei starben.
    Seit der Urteilsverkündung haben Tageszeitungen, Rundfunk und Fernsehen die grundsätzlichen Tatsachen bekanntgemacht. Obwohl der Narkose-Spiromat im Eickelborner Operationssaal zwei Verdampfer für zwei durchaus verschiedene Narkosemittel hatte, mit einem ins Auge springenden, etwa fünf mal sieben Zentimeter großen, gelben, dreisprachigen Warnschild auf jedem Verdampfer, hat Dr.   Hollenbeck der Operationsschwester und dem Operationspfleger gesagt, es mache nichts aus, welches Mittel in welchen Verdampfer komme.
    Eickelborn hatte keinen ausgebildeten Anästhesisten. Das hört sich skandalös an, bis man weiß, daß etwa viertausend Anästhesieärzte in der Bundesrepublik fehlen, und daß es an etwa zweitausenddreihundert bundesdeutschen Krankenhäusern überhaupt keinen Anästhesiearzt gibt. Dr.   Hollenbeck operierte in Eickelborn mit einem Pfleger, dem er selber den Umgang mit Narkosemitteln beibrachte. Voneinander unabhängige Untersuchungen des Herstellers des Narkose-Spiromats und der Bundesanstalt für Materialprüfung mit dem von Dr.   Hollenbeck benutzten Verdampfer haben ergeben, daß bei vorschriftswidriger Füllung mit Halothan die Narkosemittelkonzentration bei Betrieb im unteren Einstellbereich etwa dem dreizehnfachen Wert der Vol-%-Einstellmarke entsprach.
    Ein Gutachter   – Professor, Facharzt für Anästhesie, Chefarzt des Zentralinstituts für Anästhesie und Intensivbehandlung der Katholischen Krankenhäuser der Stadt Hagen   –, hat der Kammer weniger ein Gutachten vorgetragen als selber Anklage gegen Dr.   Hollenbeck erhoben, den er auch direkt ansah und ansprach. Ein anderer Gutachter   – Professor, Leiter des Zentrums der Anästhesiologie und Wiederbelebung der Universität Frankfurt – hat kategorisch behauptet, die Obduktionsuntersuchungen der Wirbelsäuleflüssigkeiten hätten eine Überdosis an Halothan als Todesursache gänzlich ausgeschlossen.
    Der erste fragte den zweiten indigniert, was denn seines Erachtens die Ursache des Herzstillstandes gewesen sei. Der zweite saß mit verschränktenArmen da, schaute seinem älteren Kollegen direkt ins Auge und gab die redlichste, erfrischendste Antwort, die ich bisher von einem Professor vor einem deutschen Gericht gehört habe: «Ich weiß es nicht.» Die Kammer teilte aber die Meinung des ersten Gutachters und verurteilte Dr.   Hollenbeck wegen fahrlässiger Körperverletzung in zwei Fällen zu neun Monaten Freiheitsstrafe, zur Bewährung ausgesetzt, und einer Geldstrafe von viertausend Mark.
    Wie so häufig nach einem Urteil, fragte man sich, was oder wem es nütze. Die Eickelborner Anstalt hatte Dr.   Hollenbeck fünf Monate nach den beiden Todesfällen entlassen, und vor dem Paderborner Gericht sprach er, jetzt sechzig Jahre alt, von einem heutigen «negativen» Einkommen aus seiner Praxis. Gisela Bartsch, Jürgen Bartschs Witwe, hatte Nebenklage erhoben, um, wie sie sagte, «Klarheit zu schaffen».
    Dr.   Josef Hollenbeck machte in Paderborn einen eher sympathischen als unsympathischen Eindruck. Man kann sich ihn als freundlichen, vertrauenerweckenden Hausarzt sehr leicht vorstellen. In einem Zeugnis seines damaligen Chefarztes hatte es am 15.   März 1956 geheißen: «Darüber hinaus hat er sich eifrig in das Gebiet der modernen Intubationsnarkose eingearbeitet und sich hierbei eine Fertigkeit erworben, die ihn in die Lage versetzt, Intubationen und Lachnarkosen modernster Art selbständig und verantwortungsbewußt vorzunehmen.»
    Gott schütze uns alle – nicht nur bei jedem Gang über die Straße.
     
    Ebenfalls für
Die Zeit
(vom 27.   Juli 1979) schrieb ich in einer Buchrezension über einen nicht unverwandten Fall in England, den Fall Mary Bell:
     
    Zwei kleine Jungen, drei und vier Jahre alt, sind ermordet worden. Der Vorsitzende der Kammer in Newcastle fordert die Angeklagte auf, aufzustehen. Die Kleine erwidert, sie stehe schon. Mary Bell, wegen Kindesmordes in zwei Fällen
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