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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Autoren: Paul Moor
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angeklagt, ist ganze elf Jahre alt.
    Am 26.   Mai 1957 gebar die siebzehnjährige Betty McC. im Dilston Hall Hospital, Corbridge, Gateshead, das Kind Mary. «Nehmt das Vieh von mir weg», rief Betty angeblich, und sie zuckte zurück, als ihr das Baby ein paar Minuten nach der Geburt in den Arm gelegt wurde. Als Mary drei Jahre alt war, ging ihre Mutter Betty mit ihr eines Tages spazieren – von Bettys stutziger Schwester heimlich verfolgt. Betty brachte Mary zu einer Adoptionsagentur. Aus dem Zimmer, wo die Unterredungen stattfanden, kam eine weinende Frau heraus und sagte, daß man ihr kein Baby geben wollte, weil siezu jung sei und nach Australien auswanderte. Betty sagte ihr: «Ich habe die da zur Adoption hergebracht. Nehmen Sie sie.» Damit schob Betty die kleine Mary der Fremden hin und ging   …
    In der Schule fiel Mary auf: jahrelang schlug, stieß und kratzte sie andere Kinder. Sie erwürgte Tauben, ihren kleinen Cousin stieß sie von einem Luftschutzbunker zweieinhalb Meter tief auf einen Betonboden hinunter. Am Tage darauf drückte sie auf einem Spielplatz die Hälse von drei kleinen Mädchen zusammen. Mit neun Jahren kam sie in eine neue Schule, wo zwei Lehrer, die Mary unterrichteten, später erklärten: «Es ist besser, wenn man nicht zu genau in ihrem Leben und ihren Verhältnissen stöbert.»
    Später erzählte eine Polizeibeamtin, die Mary während der Untersuchungshaft kennenlernte: «Sie langweilte sich. Sie stand am Fenster, beobachtete eine Katze, die die Regenrinne heraufkletterte, und fragte, ob sie sie hereinnehmen dürfte   … Wir öffneten das Fenster, und sie hob die Katze herein und begann, mit ihr mit einem Wollfaden auf dem Fußboden zu spielen   … Dann blickte ich auf und sah zuerst, daß sie die Katze an der Haut im Nacken hielt. Aber dann wurde mir klar, daß sie die Katze so fest hielt, daß das Tier nicht atmen konnte und seine Zunge heraushing. Ich sprang hin und riß ihr die Hände weg. Ich sagte: ‹Du darfst das nicht tun, du tust ihr weh.› Sie antwortete: ‹Ach, sie spürt das nicht, und jedenfalls mag ich kleinen Dingern weh tun, die sich nicht wehren können.›»
    Einer anderen Beamtin erzählte Mary, sie würde gerne Krankenschwester werden – «weil ich dann Nadeln in die Menschen stechen könnte. Ich tue den Menschen gern weh.» Marys Mutter Betty heiratete im Laufe der Zeit Billy Bell, kultivierte aber nebenbei einen ziemlich speziellen Kundschaftskreis. Nach Marys Prozeß klärte Betty einen Polizeibeamten über ihre «Spezialität» auf: «Ich peitsche sie», sagte sie in einem Ton, aus dem die Verwunderung darüber herauszuhören war, daß er es nicht wußte. «Aber ich habe die Peitschen immer vor den Kindern versteckt.»
     
    Offensichtlich hat die Bundesrepublik Deutschland kein Patent auf Kindermörder. Aber zwischen dem Fall Jürgen Bartsch und dem Fall Mary Bell gibt es einen lehrreichen Unterschied. Bei Jürgen Bartsch stand die Justiz vor einem Rätsel: Wohin mit ihm, was tun mit einem schwerkranken Menschen, für den keine Behandlungsmöglichkeit existiert? Mehr als acht Jahre lang, bis zu seinem Sterbetag, blieb diese Frage unbeantwortet. Im Fall Mary Bell existierte genausowenig eine Behandlungsmöglichkeit. Deswegenwurde, und zwar ziemlich bald, eine Behandlungsmöglichkeit extra für diese elfjährige Mörderin in einer englischen Heilanstalt eingerichtet.
     
    Am 28.   Juni 1990, kurz vor Abschluß dieses Buchmanuskripts, warnte ein von der amerikanischen Regierung zusammengestellter Ausschuß von Fachleuten, daß sich die USA «mitten in einem Kinderschutz-Notstand» befänden. Wie das National Public Radio aus Washington meldete: «In ihrem ersten Report stellen Mitglieder des United States Advisory Board on Child Abuse and Neglect fest, daß die Zahl der bekanntgewordenen Fälle von Kindesmißhandlung in den Vereinigten Staaten von 600   000 im Jahre 1979 angewachsen ist auf fast 2   500   000 im Jahre 1989.»
     
    Acht Jahre nach dem Tod von Jürgen Bartsch sagte Günter Zick, einer der drei Berufsrichter im ersten Prozeß, in einer Stellungnahme fürs Zweite Deutsche Fernsehen: «Ich bin fünfzehn Jahre älter [dreiundfünfzig] geworden. Ich habe viele Erfahrungen in den letzten Jahren als Familienrichter und Vormundschaftsrichter gemacht, und ich bin heute nicht mehr so sicher, daß ich dieses Urteil, das ich damals aus der damaligen Sicht, aus meiner eigenen Einordnung in die damalige Gesellschaft mitverantwortet habe, heute noch
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