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Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders

Titel: Jürgen Bartsch - Selbstbildnis eines Kindermörders
Autoren: Paul Moor
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in dem Maße mittragen könnte. Auch der Richter ist dem gesellschaftlichen Wandel unterworfen, und je mehr Lebenserfahrungen Sie erfahren, um so kritischer und bedenklicher und zweifelnder und demütiger werden Sie gegenüber dem Anspruch, daß man hier auf dieser Erde eine auch nur angenäherte Gerechtigkeit entfalten könnte.»
    «Die Bilanz dieses Lebens sollte uns einiges vermitteln», meinte Wilfried Rasch sechs Jahre nach Jürgens Tod. «Immer wieder ist von Erziehung die Rede, die den Charakter Jürgen Bartschs formte. Während sonst für alle möglichen Tätigkeiten Ausbildungs- und Qualifikationsnachweise verlangt werden, versuchen sich täglich viele Menschen aufs Neue an der Kindererziehung, ohne auf diese Aufgabe vorbereitet zu sein. Trotz guter Vorsätze,die einst gefaßt wurden, enden die Versuche in der Regel damit, daß die Hilflosigkeit der eigenen Eltern kopiert wird   …
    Aber vielleicht beginnen doch einige nachzudenken, auch darüber, daß gerade eben ein neuer Jürgen Bartsch heranwächst. Möglicherweise ist es der nette Junge von nebenan, oder das eigene Kind. Und das Opfer: Das ist möglicherweise auch der nette Junge von nebenan, oder das eigene Kind.»
    Bleibt die unendlich verzwickte Frage der Schuld denn immer noch unbeantwortet? Weiß man alle Einzelheiten aus dem Leben Jürgen Bartschs – und es gibt weitere, auch wichtige, die ich in diesem Buch aus Platzmangel habe streichen müssen   –, kann man dann überhaupt noch von «Schuld», gar von «Sühne» sprechen? Es ist allzu leicht, mit einem anklagenden Finger auf Jürgens Adoptiveltern zu zeigen, die mit Sicherheit für ihn nur das Beste wollten – aber wer denn wiederum hat sie erzogen und geformt? Und was war denn mit den Eltern der vorangegangenen Generationen? Bleibt so eine Kette der «schwarzen Pädagogik» ununterbrochen, gibt es unvermeidlich – früher oder später, irgendwo – wieder einen Jürgen Bartsch.
    Mit Absicht habe ich einen Abschnitt aus einem Brief von Jürgen an mich aus der chronologischen Reihenfolge herausgenommen, um ihn für den Schluß aufzuheben. Unter anderem zeigt er, wie wenige andere Briefe, wieviel Mühe er sich beim Schreiben gab und wie schriftstellerisch begabt er war. Chronologisch gehört der Passus auf Seite 142 dieses Buches, wo die Strophen des Liedes «Rauhe Gesellen, vom Sturmwind durchweht» zitiert werden. Am 20.   Juni 1968 schrieb er:
     
    Vielleicht gibt es sogar Gründe oder Beweise für das, was ich Ihnen sagte. Vielleicht gibt es gar keine Exhibitionisten, keine Homosexuellen, keine Pädophilisten «von Natur aus»? Vielleicht bleibt mancher einfach stehen auf einer Altersstufe, perplex, ernüchtert, enttäuscht, da er sieht, erkennt, als Kind schon, was er alles falsch machte, wie sehr ihm alles danebenging, und wie leicht und gut es doch die Anderen konnten. Er lachte nie fröhlichmit ihnen, spielte nicht Schlagball mit ihnen, oder sie lachten ihn aus, er konnte nicht laufen, nicht so weit springen, er war nicht in der Lage, einen Ringkampf durchzustehen, und auf den langen Spaziergängen fand sich niemand, der mit ihm sprach.
    Und wenn er kein Verbrecher wird, dieser Mensch, dann wird doch unvermeidbar sein, daß in ihm ein Wunsch heranreift, ohne daß er es vielleicht selbst bemerkt, und der eines Tages vielleicht sein Leben beherrschen wird, ja, zerstören wird. Der irrsinnige, aber unbändige Wunsch, es zu wiederholen, es neu, es besser zu machen. Keinen Tag älter will er werden, innerlich, will ein Kind, ein Junge bleiben, denn er sieht es doch Tag für Tag, er sieht es so klar, daß es weh tut, wie schön es ist, ein Junge zu sein, Freunde, Kameraden zu haben, mit ihnen schwimmen zu gehen, zu raufen, und er merkt nicht, wie gefährlich es für ihn wird, wie lebensgefährlich, wenn es erst soweit ist, daß er trotz seines «Lebenswunsches» nie mehr wird ein Junge sein können, und wenn er beginnt, sich mit den «rauhen Gesellen, vom Sturmwind durchweht», zu identifizieren   …
    Denn auch das ist mir mit zum Verhängnis geworden, daß ich um keinen Preis erwachsen sein wollte, denn für mich wird es, so scheint es, nichts Schöneres im Leben geben, als noch mal Junge zu sein, aber diesmal alles besser zu machen. Daß das immer ein Traum bleiben muß, weiß ich, aber irgendein Teufel in mir flüstert mir zu, das sei nicht allein meine Schuld   …

Postskriptum
    Diejenigen, die sich des Vergangenen nicht erinnern können, sind dazu verurteilt, es zu
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