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Jones, Susanna

Jones, Susanna

Titel: Jones, Susanna
Autoren: Wo die Erde bebt
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mal in der Schule auch nur einen Tag gefehlt.»
    Das stimmt. Ich habe noch nie auch nur einen einzigen Tag gefehlt, nicht einmal wegen Noahs Beerdigung. «Ich kann diese Woche nicht ins Büro kommen. Es ist unmöglich.»
    Es trat kurzes Schweigen ein. Sie kannte mich gut genug,
    um keine Fragen zu stellen, die an wunde Punkte rühren könnten.
    «Okay. Brauchst du irgendetwas?»
    Ja, ich brauchte vielerlei, aber ich wusste nicht, wie ich es nennen sollte, wie ich es hätte sagen können.
    «Nein, nichts. Danke.»
    Ich zog die Vorhänge zu und schloss die Tür ab. Ich legte mich rücklings auf die Dielen und machte die Augen zu.
    Den ganzen Tag lang fuhren auf dem Vorhof der Werkstatt Autos ein und aus. Die Tankwarte dirigierten die Autos der Kunden lautstark an die Zapfsäulen. Ich lauschte dem dauernden, von Menschenstimmen durchsetzten Summen der Motoren.
    Und mehr oder weniger in dieser Position blieb ich drei Tage lang. Ich unternahm gelegentliche Ausflüge in die Küche oder ins Bad, aber hauptsächlich lag ich auf dem Fußboden und hörte der Autowerkstatt zu. Manchmal schien mein Kühlschrank die Autos und Lieferwagen zu übertönen, manchmal hörte ich ihn nicht. Ich weiß nicht, ob ich während dieser Tage und Nächte irgendwann schlief oder ob ich die ganze Zeit wach lag. Es war nicht Verzweiflung, was mich da am Boden hielt, auch nicht Verbitterung. Ich empfand nichts anderes als nichts. Eine absolute, vollkommene Leere. Ich hatte einen Liebhaber und eine Freundin besessen. Jetzt hatte ich keins von beiden mehr. Sie hatten mir sich selbst und einander gestohlen. Es war nichts zu machen, und so tat ich auch nichts. Wenn ich von der Polizeiwache aus einen Blick in meine Wohnung während dieser drei Tage zurückwerfe, kann ich mir nicht vorstellen, dass ich vorhatte, für immer da liegen zu bleiben, bis zum Bewusstseinsverlust oder zum Tod. Wahrscheinlich wartete ich auf irgendetwas, aber worauf, weiß ich nicht. Ich hatte nicht die Absicht, je wieder mit Lily oder Teiji zu sprechen.
    Am vierten Tag klingelte das Telefon. Ich ließ es den ganzen
    Vormittag lang klingeln. Ich wusste, dass es Lily war - niemand außer ihr hätte zu dieser Tageszeit nicht gearbeitet -, aber ich brachte es nicht über mich, den Telefonstecker aus der Wand zu ziehen. Ich wollte wissen, dass sie versuchte, mich zu sprechen - selbst wenn ich mich weigerte, es ihr zu gestatten. Am Abend ging ich aus dem Haus in Richtung Bahnhof. Ich hatte kein Ziel, auch keinen bestimmten Weg im Sinn, aber ich konnte nicht in der Wohnung bleiben, wo das Telefon mich mit Lilys Stimme anwinselte.
    Ich lief und lief die ganze Nacht. Von Gotanda aus machte ich mich, gegen den Uhrzeigersinn, auf den Weg zur nächsten Station der Yamanote-Linie. Die Straße nach Osaki war stiller und dunkler, lauter Häuser und kein Neon. Ich war froh, im Freien zu sein und die frische Luft prickelnd an meinem steifen Körper zu spüren. Aber als ich in Osaki stehen blieb, musste ich wieder an Lily und Teiji denken, an das Taschentuch und das Eis, die von Hand zu Hand gegangen waren, daran, wie sie Lucy auf den Klippen allein gelassen hatten. Ich setzte meinen Marsch fort, denn solange ich in Bewegung blieb, bewegten sich auch meine Gedanken schneller und waren weniger scharf umrissen, weniger imstande, mir neue Wunden zuzufügen. Ohne dass ich es mir vorgenommen hätte, folgte ich den Gleisen bis zum nächsten Bahnhof und dann weiter zum nächsten.
    In dieser Nacht war die Ankunft an jedem Bahnhof für Lucy etwas wie eine Heimkehr, denn sie kannte sie alle, brachte diese Stadtbezirke jeweils mit unterschiedlichen Bereichen ihres Lebens in Verbindung. Achtundzwanzig Bahnhöfe liegen am Ring um Tokio, achtundzwanzig Perlen auf der Schnur. Für mich ist jeder von ihnen von jeher ein einmaliges Juwel gewesen. In Shinbashi kam ich an der alten Dampflok vorbei, wo ich einmal auf Natsuko gewartet hatte, bevor wir mit einem anderen Zug nach Odaiba fuhren. Dort stiegen wir in das größte Riesenrad der Welt, betrachteten von oben Rainbow Bridge und Tokyo Tower, Industrieanlagen und die graue See. Am Yaraku-cho-Bahnhof strich ich mit den Fingern über die rußigen Backsteine der Eisenbahnbrücke. Unter diesen breiten Bogen befinden sich kleine Restaurants. Bob und ich trafen uns manchmal in einem zum Abendessen. Zu jedem Aspekt seines Lebens wollte er meinen Rat hören. Vermutlich schrieb er mir, weil ich fließend Japanisch sprach, ein Wissen und einen Scharfsinn zu, die ich gar
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