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Joli Rouge (German Edition)

Joli Rouge (German Edition)

Titel: Joli Rouge (German Edition)
Autoren: Alexandra Fischer
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locker.
    Gewiss, jeder wusste um die Existenz der Höhlen. Viele von
ihnen hüteten ein schauerliches Erbe: Berge von menschlichen
Gebeine verrotteten in ihrem Inneren und machten die Luft
unerträglich. Die Männer erzählten sich, dass auf der Insel
einst Indianer siedelten. Als die Spanier eintrafen, hetzten
sie die Indios mit ihren Hunden und warfen sie ihnen zum
Fraß vor. Aus Furcht verbargen sich die Überlebenden in den
einfachen Höhlen, wo sie meist vor Hunger zu Tode kamen,
denn ihre Angst vor den Spaniern war größer als ihr
körperliches Leiden.
    In die Enge gedrängt, entgegnete Jacquotte: »Stell dich
nicht dumm, Pierre. Die Sicherheit der Höhle hat uns an dem
Tag des spanischen Überfalls gerettet. Niemand soll wissen,
wo sie liegt. Auch nicht mein Vater. Im Gegensatz zu ihm
verschließe ich meine Augen nicht vor der Realität.«
    Pierre nickte und Jacquotte wusste, dass ihre Gedanken um
dasselbe Erlebnis kreisten. An einem Nachmittag vor einigen
Jahren hatten marodierende Spanier die Siedlung überfallen
und viele Männer getötet. An diesem Tag zerbrach Jacquottes
heile Welt, in der sie arglos durch die Wälder streifte. Mit
eigenen Augen musste sie mit ansehen, wie aus einem
friedlichen Tag ein blutiges Massaker wurde, und wie jeder
Einzelne um sein Überleben kämpfte. Sie sah Nachbarn sterben
und beobachtete, was die Spanier mit den Frauen ihrer Feinde
taten. Beinahe wäre sie selbst zum Opfer geworden. Ihr
Entkommen verdankte sie einzig Pierre. Er hatte ihren
Peiniger getötet. Anschließend brachte er sie und Manuel zu
einer Höhle, die er während eines Streifzugs entdeckt hatte.
Auf Jacquottes heftiges Drängen hin lehrte er sie dort in
den nachfolgenden Wochen den Umgang mit Machete, Säbel und
Muskete.
    »Solange ich an eurer Seite bin, könnt ihr unbesorgt
sein!«, Pierre klopfte sich prahlerisch auf die Brust.
    Sie verdrängte die Erinnerungen und warf ihm ein
Schneckenhaus an den Kopf, das sie gefunden hatte. »Deine
Überheblichkeit wird dich noch in den Himmel wachsen lassen,
wo dir die Raben deine schrecklichen gelben Schlangenaugen
rauspicken!« Sie schmunzelte, als Pierre zischelnde
Geräusche von sich gab und hinter Manuel herlief, der das
Weite suchte.
    Gut gelaunt erreichten sie einige Zeit später die baumlose
Ebene mit den Tabakfeldern der Pflanzer. Ihr Gelächter
verstummte. Jacquotte fürchtete diese Männer. Die meisten
zeigten unverhohlenen Hass auf die Bukaniere im Norden, die
ihre tägliche Arbeit angeblich viel leichter verrichteten,
indem sie auf Tiere schossen, anstatt sich körperlich zu
verausgaben. Die Pflanzer mussten Bäume fällen, Buschwerk
roden und eine Reihe von Fruchtreihen anlegen, bevor der
Boden genug Nährstoffe enthielt, damit Tabak auf ihm gedieh.
Ihre Holzhütten, auf deren Dächern sie schmackhafte Wurzeln
trockneten, lagen verlassen zwischen den Fluren. Pierre
formte mit der rechten Hand einen Becher, den er zum Mund
führte. Jacquotte nickte. Vermutlich hatte der
wycou
, eine
Art Bier, das die Pflanzer aus Maniok brauten, wieder ganze
Arbeit geleistet. Lautlos bewegten sie sich vorwärts. Obwohl
die Pflanzer auf den Handel mit Fleisch angewiesen waren,
wurden sie nicht müde, Bukanieren aufzulauern und ihnen eine
Weile zuzusetzen, bevor sie ihnen erlaubten, ihr Anliegen
vorzubringen. Jacquotte beobachtete die Felder. Die
brusthohen Pflanzen wogten im Wind. Wenn man genau hinsah,
konnte man fingerdicke Raupen auf ihren Blättern erkennen.
Sie fuhr im Vorübergehen sachte über die feinen Härchen der
Larven und folgte Pierre, der den Weg vorgab und Manuel
abschirmte. Erst, als sie wieder unter Bäumen waren und
einen Bachlauf gekreuzt hatten, ließ ihre Anspannung nach.
    Auf einer Anhöhe verschnauften sie kurz. Sie hatten gutes
Tempo vorgelegt. Jacquottes Blick schweifte über die
Landschaft. Schlanke Palmen wechselten sich mit gewaltigen
Acajou- und Mapou-Bäumen ab und schufen ein harmonisches
Miteinander. Am Horizont konnte man ein Stück der
Küstenlinie erkennen. Der Sand zog sich wie eine silberne
Grenze durch das Reich der Pflanzen und trennte sie vom
Ozean, der mit seinen rätselhaften Geschöpfen ein eigenes
Imperium bildete.
    Pierres Hund knurrte, als auf einer Schneise vor ihnen
einige Pferde den Hügel querten. Die Tiere hoben schnaubend
die Köpfe und ließen ihre Ohren spielen. Es waren gedrungene
Kreaturen mit stämmigen Beinen und langen Hälsen.
Verwilderte
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