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Joli Rouge (German Edition)

Joli Rouge (German Edition)

Titel: Joli Rouge (German Edition)
Autoren: Alexandra Fischer
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den er nur
bewundern konnte, und er glaubte daran, dass sie ihr Leben
gemeinsam mit Pierre meistern würde, wenn es soweit war.
    Er wollte fortfahren, das grobe Salz zu mahlen, aber seine
steifen Gelenke widersetzten sich. Die Zuversicht, dass sein
Wille stärker war als sein Gebrechen und ihn noch eine Weile
durchhalten ließ, schwand mit jedem Tag. Umso größer wurde
dagegen die Furcht, seine Kinder ohne Vater zurückzulassen.
Jérôme scherzte oft, Émiles Schultern würden bald so weit
herunterhängen, dass er mit den Fingern die Zehen berühren
konnte, ohne sich zu bücken. Émile verzog das Gesicht vor
Schmerz. Er wünschte sich, Jérôme würde sesshaft werden,
auch wenn er daran zweifelte, dass sein Freund sich den
Kindern im Falle seines Todes annahm. Dafür kannte Émile ihn
zu gut. Jérôme die Verantwortung einer Vaterrolle zu
übertragen, war, als sperrte man die bei Nacht leuchtenden
Käferwürmer in ein Gefäß: Ihr Glühen erlosch augenblicklich.
Deshalb brachte Émile es nicht über sich, seinen Freund um
diesen Gefallen zu bitten. Zu sehr stand er bereits in
seiner Schuld. Unfähig, zu jagen oder auf sonstige Weise von
Nutzen zu sein, war Émile in jeder Hinsicht auf seinen
Gefolgsbruder angewiesen. Und Jérôme kam dieser Aufgabe
pflichtbewusst nach. In regelmäßigen Abständen brachte er
Kleidung, Waffen, Zucker und Mehl vorbei. Er verweilte eine
Zeit lang in der Siedlung, bis ihn die Sehnsucht zurück aufs
Meer trieb. Émile hustete schwer und tätschelte seinem Hund
das Fell. Zu lange war er den eigenen Gedanken nachgehangen,
dabei musste er die Vorbereitungen für den Abend zu Ende
bringen. Energisch sammelte er sich und ließ den Stein
erneut über die Salzkristalle rollen.
    Unterdessen schlenderten Jacquotte und Pierre schweigend
nebeneinander her. Der steinige Pfad schlängelte sich
südwärts an imposanten Baumriesen vorbei und führte sie tief
ins grüne Herz der Insel, die sie als La Española kannten.
Je weiter sie vordrangen, desto mehr flaute der böige Wind
zu einer leichten Brise ab, die von den Stimmen der Tiere
überlagert wurde. Das Zirpen der Grillen um sie herum war
ihnen so wohlbekannt wie das Schreien der blau-gelben
Papageien in den Baumkronen. Pierre peitschte spielerisch
einen abgebrochenen Zweig durch die Luft, während Jacquotte
Abstand zu ihm schuf. An diesem Tag bedrängte sie seine
Anwesenheit, denn Pierre hatte angefangen, sich zu
verändern. Seine Schultern wurden breiter, seine Stimme
tiefer und seine Muskeln begannen, sich stärker auszuprägen.
Die meiste Zeit lief er mit nacktem Oberkörper herum, als
wollte er allen von der Entwicklung kundtun. Neben der
Wandlung an sich erschreckte Jacquotte aber vor allem die
Tatsache, dass es ihr auffiel, und sie ihn vermehrt
beobachtete.
    »Warum verschweigst du deinem Vater unseren Ausflug?«
Pierre drehte den Kopf zur Seite und Jacquotte sah schnell
in eine andere Richtung.
    »Er soll nicht in Sorge um mich sein.«
    »Aber er sorgt sich immerfort um dich! Du hast wohl nie in
sein Gesicht geblickt, wenn du frühmorgens die Hütte
verlässt. Wenn er könnte, würde er dich wie Manuel
anbinden.«
    »Sei still«, befahl Jacquotte.
    »Spar dir deine Munition«, murrte Pierre. „Ich wünschte
nur, er wüsste um deine Fähigkeiten. Vielleicht wäre ihm
dann leichter.«
    »Ganz bestimmt nicht! Als Jérôme ihm vorgeschlagen hat,
mich zur eigenen Sicherheit an den Waffen zu unterrichten,
da wurde er so bleich, als hätte er unmäßig von den großen
Landkrabben gegessen.«
    Um Pierres Mundwinkel zuckte es. »Besucht euch Jérôme
deswegen immer seltener? Was fürchtet er wohl mehr, den Hund
deines Vaters oder seinen schnellen Säbel?«
    »Noch ein Wort und du wirst den Tag verfluchen, an dem du
mir die Machete in die Hand gegeben hast«, drohte Jacquotte.
»Mein Vater ist ein guter Mann!«
    »Gut darin, die Augen zu verschließen und zu glauben, dass
die Spanier nie mehr über die Küste hereinbrechen werden.
Warum verbirgst du die Höhle vor ihm?«
    »Die Höhle ist unser Geheimnis!«, erwiderte Jacquotte
brüsk und zeigte Manuel einen schwarzweiß gestreiften
Schmetterling am Wegesrand. Mit einem glücklichen Blubbern
klatschte er in die Hände und verscheuchte das Insekt. Mit
zackigem Flug erhob es sich und ließ einen enttäuschten
Manuel zurück.
    »Es gibt hunderte Höhlen auf der Insel! Warum sprichst du
niemals über unsere?« Pierre ließ nicht
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