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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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Verboten und dem aparten Reiz ihrer Übertretung. Salopp formuliert: Was der Mensch nicht haben kann, macht ihn ganz besonders an! So erging es offenbar auch Urmutter Eva. Die Schlange, »schlauer als alle Tiere des Feldes« 7 , erklärte ihr, dass Gott gelogen habe. Eva müsse gar nicht sterben, wenn sie vom Baum der Erkenntnis esse, vielmehr würden ihr die Augen aufgehen . Sie würde sein wie Gott und könne Gut und Böse unterscheiden. Eva dachte sich daraufhin, dass es doch »köstlich wäre, von dem Baum zu essen« und dadurch »klug zu werden«. 8 Also griff sie kurzerhand zu und ließ fürsorglich, wie sie nun einmal war, auch ihren Gatten von den wundersamen Früchten naschen, auf dass dieser nicht ewig dumm bleibe.
    Was auf den ersten Blick recht harmlos anmutet (ein Fall von Obstraub beziehungsweise unzulässiger Inanspruchnahme von Bildungsangeboten), ist aus theologischer Sicht die Freveltat schlechthin, gewissermaßen die »Mutter allen Übels«. Denn durch den Akt des Ungehorsams gegen Gott kam »das Böse« in die heile Welt der göttlichen Schöpfung.
    Im Katechismus der Katholischen Kirche , dem aktuell gültigen Glaubensregelwerk für die mehr als 1,1   Milliarden Katholiken weltweit, heißt es hierzu: »Vom Teufel versucht, ließ der Mensch in seinem Herzen das Vertrauen zu seinem Schöpfer sterben, missbrauchte seine Freiheit und gehorchte dem Gebot Gottes nicht. Darin bestand die erste Sünde des Menschen … Seit dieser ersten Sünde überschwemmt eine wahre Sündenflut die Welt: Kain ermordet seinen Bruder Abel; infolge der Sünde werden die Menschen ganz allgemein verdorben.« 9
    Theologisch wird aus dem Sündenfall unter anderem die sogenannte Erbsünde abgeleitet. Während dieses spezielle theologische Mem jedoch in Europa keine große Rolle mehr spielt (nur die wenigsten Eltern glauben bei der Taufe ihrer Kinder tatsächlich, dass diese so unschuldig dreinblickenden Wesen mit der »Erbsünde« belastet sind), haben andere Bestandteile der Sündenfallgeschichte den Prozess der Säkularisierung (Verweltlichung) weitgehend unbeschadet überlebt.
    So haben selbst areligiöse Menschen das »Sündenfall-Syndrom« nur in den allerseltensten Fällen überwunden. Unter dem Begriff »Sündenfall-Syndrom« fasse ich eine spezifische Normierung des Denkens, Handelns und Empfindens im Sinne des in der biblischen Paradieserzählung angelegten Konzepts von moralischer Schuld und Sühne . Die grundlegenden Axiome (Denkvoraussetzungen) dieses Syndroms lassen sich folgendermaßen formulieren:
    1. Axiom: Es wird unterstellt, dass Menschen im Gegensatz zu anderen Lebewesen über »Willensfreiheit« verfügen. Grundlage dieser Idee ist das sogenannte »Prinzip der alternativen Möglichkeiten«. Dieses besagt, dass sich eine Person unter exakt den gleichen Bedingungen prinzipiell auch anders entscheiden könnte, als sie sich tatsächlich entscheidet. Bezogen auf die biblische Sündenfallgeschichte heißt dies: Eva hätte zum Angebot der Schlange unter exakt den gleichen Bedingungen auch »nein!« sagen können. Ihre Entscheidung, gegen die göttlichen Gebote zu verstoßen, wäre demnach also weder durch innere noch durch äußere Faktoren eindeutig bestimmt gewesen.
    2. Axiom: Weiterhin wird unterstellt, dass »das Gute« und »das Böse« (beides jeweils im Singular!) als absolute moralische Kategorien existieren. Diese können, wie in der Bibel, im religiösen Sinne gedacht werden (Gott versus Teufel), aber auch als »über den Dingen schwebende« philosophische Ideen (»das Gute an sich« versus »das Böse an sich«). Auch wenn sich die meisten menschlichen Entscheidungen irgendwo auf dem Kontinuum zwischen diesen beiden absoluten Moral-Polen bewegen, also weder »absolut gut« noch »absolut böse« sind, wird der moralische Dualismus von Gut und Böse als sinnvolles, ja unaufkündbares Orientierungskonzept verstanden. Eben deshalb kommt dem »Baum der Erkenntnis von Gut und Böse« in der biblischen Erzählung auch eine so herausragende Bedeutung zu.
    Zentral für die Logik des Sündenfall-Syndroms ist die enge Verzahnung beider Axiome: Nur weil Menschen angeblich über Willensfreiheit verfügen (Axiom 1), also die freie Wahl besitzen, sich sowohl für »das Gute« als auch für »das Böse« (Axiom 2) zu entscheiden, können sie in moralischem Sinne überhaupt verantwortlich gemacht werden. Besäßen sie solche Willensfreiheit nicht, würden sie vielleicht »böse Dinge« tun, könnten aber nicht
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