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Jenseits von Gut und Böse

Jenseits von Gut und Böse

Titel: Jenseits von Gut und Böse
Autoren: Michael Schmidt-Salomon
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selbst im moralischen Sinne »böse« sein. Erst aus dem Zusammenwirken beider Axiome entsteht somit die dritte, die letztlich entscheidende Säule des Sündenfall-Syndroms: das moralische Schuld-, Sühne- und Sündenprinzip.
    Verdeutlichen wir uns dies anhand der biblischen Erzählung: Hätte Eva nicht die Alternative besessen, der teuflischen Versuchung, also dem Bösen , zu entsagen, so hätte man ihr gegenüber keinen moralischen Schuldvorwurf erheben können. Eva wäre in diesem Falle schlichtweg schuldunfähig gewesen. Da in der Logik des Sündenfall-Syndroms jedoch unterstellt wird, dass Eva sich prinzipiell auch anders hätte entscheiden können, als sie sich entschieden hat, beging sie mit ihrem Verstoß gegen Gottes Gebote eine schwerwiegende Sünde.
    In eine etwas weltlichere Sprache übersetzt, heißt das: Durch die »freie Willensentscheidung« für »das Böse« lud Eva Schuld auf sich, verursachte also gewissermaßen ein Minus auf ihrem moralischen Konto, das ausgeglichen werden musste. Dieser Schuldausgleich geschah durch die (vermeintlich) »gerechte Strafe« Gottes, die freilich nicht nur Eva, sondern auch alle ihr nachfolgenden Frauen traf: »Zur Frau sprach er [Gott]: Viel Mühsal bereite ich dir, so oft du schwanger wirst. Unter Schmerzen gebierst du Kinder. Du hast Verlangen nach dem Mann; er aber wird dich beherrschen.« 10
    Adam, durch diesen göttlichen Beschluss zwar zum Beherrscher der Frau erkoren, erging es im Endeffekt auch nicht viel besser. Da er die »freie Entscheidung« getroffen hatte, auf seine Frau zu hören (statt ihr »Vergehen« umgehend dem Schöpfer zu melden) und von den verbotenen Früchten zu essen (statt ewig dumm zu bleiben), lud auch er Schuld auf sich. Als »Sühnestrafe« verfluchte Gott den Ackerboden, den der aus dem Paradies ausgeschlossene Adam von nun an zu bearbeiten hatte, und nahm dem Menschen die Gabe der Unsterblichkeit: »Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.« 11
    Um die Tragweite des Sündenfall-Syndroms richtig einschätzen zu können, muss man verstehen, dass es in der Regel auch bei jenen wirkmächtig ist, die nicht an die Existenz eines personalen Gottes glauben. Wie ich schon zu Beginn ausführte, hatten sich die meisten Zuhörer meines Vortrags vor rund zehn Jahren vom Glauben an Gott und Teufel bereits verabschiedet. Dennoch hielten sie an der Überzeugung fest, dass sich Hitler und Stalin »aus freien Stücken« (Axiom 1) für »das Böse« (Axiom 2) entschieden und dadurch »große Schuld« (logische Konsequenz des Sündenfall-Syndroms) auf sich geladen hatten.
    Dass die beiden Diktatoren trotz des immensen Minus, das sie durch ihr verbrecherisches Wirken auf ihrem moralischen Konto angesammelt hatten, niemals »Sühne« leisten mussten, bezeichnete einer der Zuhörer, ein religionsfreier, pensionierter Ingenieur, als den »unerträglichsten Verstoß gegen das Gerechtigkeitsprinzip«, den er sich überhaupt vorstellen könne. In seinem Versuch, einen akzeptablen moralischen Schuldausgleich für Hitler und Stalin zu finden, steigerte sich der ansonsten recht freundlich wirkende, ältere Herr in sadistisch anmutende Rachephantasien hinein. So meinte er, dass man Hitler und Stalin als Buße für ihre schrecklichen Verbrechen eigentlich über Jahrzehnte hinweg unablässig mit Elektroschlägen hätte foltern müssen. Bemerkenswerterweise stand er mit dieser Auffassung keineswegs alleine da.
    Wir sehen: Akzeptiert man die beiden Grundaxiome des Sündenfall-Syndroms, Willensfreiheit und Gut/Böse-Dualismus, so sind die daraus resultierenden Folgen (Schuld- und Sühneprinzip) logisch stimmig – und zwar völlig unabhängig davon, ob man an einen personalen Gott glauben mag oder nicht. Das Sündenfall-Syndrom besticht durch seine inhärente Logik, allerdings hat es einen ganz entscheidenden Schwachpunkt: Die Axiome, die ihm zugrunde liegen, sind nicht wasserdicht.
Rückkehr zum Baum der Erkenntnis
    Unsere Ernte der »neuen Früchte der Erkenntnis« im ersten Teil des vorliegenden Buches wird den Befund erbringen, dass weder die Idee der Willensfreiheit noch der Gut/Böse-Dualismus einer kritischen Überprüfung standhalten können. Stürzen aber diese Axiome des Sündenfall-Syndroms, fällt auch das auf ihnen aufbauende moralische Schuld- und Sühneprinzip wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
    Grämen sollten wir uns
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