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Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt

Titel: Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Autoren: Audur Jónsdóttir
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die Küche und füllt eine Schüssel mit Wasser. Aber denk dran, Sunna, dass wir uns jetzt gleich ans Werk machen müssen, damit wir pünktlich zur Arbeit kommen.
    Ich rappele mich hoch, sehe ihr mit resigniertem Blick hinterher und schaue mich in der Wohnung um. Sie ist kaum größer als fünfzig Quadratmeter. Schon vom Eingang hat man alles im Blick: das winzige Schlafzimmer und das etwas größere Wohnzimmer, von dem aus Mama die Passanten beobachten kann, das Bad, so eng, dass sie sich an der Badewanne vorbeizwängen muss, um aufs Klo zu gehen, und die Küchenzeile, die zum dunklen Hinterhof hinausliegt. Sie hat wenige, aber schöne Möbel, die sie sich im Laufe der Zeit zusammengespart hat, einige sind aus Kirschbaumholz, weil der Name sie amüsiert. Ihre Patchwork-Decke schmückt das Bett, und über die Sessel sind Häkeldecken gebreitet. In den Regalen stehen Gurkengläser, die sie ausgewaschen, angemalt und mit Blumen oder Steinen gefüllt hat. An den Wänden hängt eine wahllos wirkende Ansammlung von Fotos, gerahmten Zeitungsausschnitten und naiven Gemälden unbekannter Künstler: die Ausbeute eines zweiundsiebzigjährigen Lebens. Die wenigsten Bilder zeigen Familienmitglieder. Nur ein rotstichiges Foto von ihren verstorbenen Eltern ist darunter, von dem Fischer mit seiner strenggesichtigen Ehefrau; einige Fotos sind auch von mir – aufgenommen in verschiedenen Altersstufen in dieser Wohnung. Hier bin ich aufgewachsen.
    Am Anfang hatten wir uns das Schlafzimmer geteilt, dann überließ Mama es mir allein und zog ins Wohnzimmer. Noch vor wenigen Jahren sah das Schlafzimmer so aus, als wäre es mein Zimmer, bis ich nach all der Zeit im Ausland wieder nach Island zog und ihr klarmachte, dass wir nie wieder zusammenwohnen würden.
    Bin ich dann jetzt für immer allein? Lächelnd rang ich mir das Versprechen ab, sie regelmäßig zu besuchen, jetzt sei ich ja wieder in Island, so dass wir tolle Sachen unternehmen könnten, zwei alleinstehende Frauen. Während ich ihr diese goldene Zukunft ausmalte, spürte ich etwas Kaltes, Schweres in meinem Magen, das, was meine Yogalehrerin rabenschwarzen Stahlklumpen nennt. Aber Mama sagte nur: Du bleibst nicht lange allein, du wirst einen Mann kennenlernen, so bist du nun mal.
    Sie war anders.
    Sagte sie, die allein gewohnt hatte, seit sie ihr Elternhaus in einem Fischerdorf in den Westfjorden verlassen hatte, wo sie als kaum konfirmiertes Mädchen schon wie eine Erwachsene arbeitete – schließlich musste sie vier Brüder ernähren und für die Ausbildung des Ältesten aufkommen. Mit sechzehn bekam sie eine feste Stelle in einer Fischfabrik und arbeitete sich in den nächsten Jahren zur Vorarbeiterin hoch. Als ihre Eltern dann beide tot waren, zog sie nach Reykjavík, wo ihr eine ähnliche Stellung angeboten worden war.
    Gelegentlich hatte sie Liebhaber, aber nie für längere Zeit. Sie war auf ihre Art durchaus attraktiv: muskulös, aber leichtfüßig, mit mildem Lächeln und einem Mandarinenton im blonden, widerspenstigen Haar.
    Vielleicht war der Blick ihrer grauen Möwenaugen zu stechend für die Männer, die sie traf. Oder ihre Nase zu markant. Es kann natürlich auch sein, dass es den Männern unangenehm war zu sehen, dass sie arbeiten konnte wie einer von ihnen. Vielleicht war sie zu selbständig, sich auf einen Mann einzulassen, zu eigensinnig für die Schlichten, zu kräftig nach all den Jahren, in denen sie ihre Brüder versorgen musste. Wahrscheinlich hatte sie irgendwann einfach genug von ihnen. Auf jeden Fall hatten ihre Brüder kein Verständnis dafür, als sie mit vierzig schwanger wurde, eine alleinstehende Frau, die die schwere Arbeit um zehn Jahre älter erscheinen ließ: Die Jahre des Fischfiletierens hatten tiefe Falten um ihre Augen hinterlassen, ihre Hände waren rau und rot geschuftet, und sie bekam bereits einen Buckel. Was für ein Blödsinn, zischten sie einander zu und zogen über ihre Schwester her, die ihretwegen mit der Schule aufgehört hatte. Sie selbst war einfach nur erstaunt. Am Tag des Seemanns war sie mit Skafti Ólafsson auf einen Ball gegangen und tanzte mit einem katalanischen Seemann mit melancholischem Blick, der sich zwinkernd von ihr verabschiedet hatte, bevor er am Ende der weißen Sommernacht auf das offene Meer verschwand. Das sollte einem eine Lehre sein, nicht zu tief ins Glas zu kucken, kichert sie noch heute manchmal: Ich hatte mich auf die Wechseljahre eingestellt, und stattdessen kamst du.
    Diese billigen Witzchen
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