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Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt

Titel: Jenseits des Meeres liegt die ganze Welt
Autoren: Audur Jónsdóttir
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gestern Abend angerufen hat. Das kam wohl alles ziemlich plötzlich.
    Okay.
    Okay … was?, fragt er zögerlich, ohne dabei aufzuhören zu lächeln.
    Das wird schon gehen, sage ich und erinnere ihn im selben Atemzug daran, dass bei mir bei der Arbeit in der Adventszeit der Teufel los sein wird. Diesmal muss er sich Zeit für seinen Sohn nehmen, er kann nicht so durch die Gegend hetzen wie den ganzen Herbst über. Die beiden sind jetzt schon seit Sommer hier, und er hat sich erst ein paar Tage Zeit für Helgi genommen.
    Seine Stimme klingt fast panisch, als er mich darum bittet, ihm das jetzt nicht unter die Nase zu reiben, es passe nicht zu mir, mich so anzustellen, zumal ich doch wisse, dass er seit einigen Monaten vor lauter Arbeit kaum noch aus den Augen schauen könne, so sei das nun mal, wenn man ein neues Unternehmen auf die Beine stelle, erst recht in der Tourismusbranche, da müsse er alles geben, wenn wir irgendwann einmal aus den Schulden herauskommen wollten – aber klar, diesmal liege es an ihm, eine Lösung zu finden, allerdings erst heute Abend, da er gleich zu einer Besprechung nach Ísafjördur fliege und erst mit der letzten Maschine zurückkomme, so dass ich Helgi in Empfang nehmen müsse.
    Moment mal, du fliegst nach …
    Er sieht mich mit flehenden Augen an, schon gestresst genug, auch ohne dass ich ihm jetzt eine Szene mache. Das bedeutet doch nur, dass ich etwas später heimkomme als sonst, die Wettervorhersage ist ganz in Ordnung. Keine Sorge! Nun müsse er aber los, er komme zu spät zu einem Termin.
    In Ordnung, sage ich widerwillig. Aber pass auf, dass du den Rückflug nicht verpasst.
    Seine Erleichterung wird zu einem Lächeln. Danke, Sunna, auf dich kann man sich echt verlassen. Kuss, Kuss, Kuss. Ich bin sicher, du wirst den Erben gut empfangen.
    Dann ist er weg.
    *
    Tannengrüner Cordrock, apfelroter Pullover, ich sehe aus wie ein Weihnachtsbaum. Alle anderen Klamotten sind schmutzig, heute Abend muss einfach Zeit sein, eine Waschmaschine durchlaufen zu lassen, aber bis dahin muss das hier reichen. Immerhin ist es der erste Dezember, da kann man ruhig einmal aussehen wie ein Weihnachtsbaum. Warum ist Arndís verschwunden, und warum stresst mich das so? Wir haben uns seit zehn Jahren nicht gesehen.
    Warum ist dieser Rock so weit?
    Ich sehe aus wie ein Vogel Strauß, nackter Hals mit Vogelkopf. Grau gesprenkelte Krähensträhnen stehen in alle Richtungen ab, meine angepunkte Frisur ist viel zu weit herausgewachsen. Eigentlich sollte Mama mich frisieren, nicht umgekehrt. Und die Augenbrauen haben etwas Wolfsmäßiges, ich hätte mir längst angewöhnen müssen, sie gelegentlich mal zu zupfen. Was für ein Urwald! Sie sind fast schon zusammengewachsen und lassen meine herben Gesichtszüge noch deutlicher hervortreten, schief über der Adlernase und den Lippen, die man kaum sieht. Ich bräuchte eine Rundum-Botox-Behandlung, und zwar sofort, ich sehe aus wie, ich weiß nicht, wie ein Trollweib. Auf meinen Wangen sieht man immer mehr Äderchen! Ein Wunder, dass ich diesen attraktiven Ehemann habe. Ich sehe meinem sonderbaren Spiegelbild in die mausgrauen Augen. Lächele, so dass die vorstehenden Eckzähne aufblitzen. Wie wäre es, die mal aufhellen zu lassen?
    Ich werde noch wahnsinnig.
    Arndís muss wahnsinnig geworden sein. Man nimmt automatisch an, dass Leute, die einfach abhauen, wahnsinnig geworden sind. Hören sie auf, wahnsinnig zu sein, wenn man sie wiederfindet? Das hängt sicher davon ab, in welchem Zustand man sie wiederfindet. Doch daran mag ich gar nicht denken. Ich sollte lieber etwas suchen, womit ich meinen trostlosen Hals bedecken kann. Ich sehe in der chinesischen Schmuckschatulle nach, die ich auf dem Flohmarkt gekauft habe – zum Leidwesen meines Mannes. Mir gefallen alte, handgearbeitete Dinge, die etwas Geheimnisvolles an sich haben, und das sieht man der Wohnung auch an: Hier und dort habe ich Sachen eingeschmuggelt und sie auf die modernen, von Axel selbst gebauten Möbel gestellt, die stoisch meinen Nippes tragen wie Galeriewände Bilder. So funktionieren wir: Yin und Yang, zwei schwarze Sonnen.
    Ich fische eine filigrane Kette aus Weißgold heraus, lege sie auf meinen linken Handrücken und erinnere mich daran, wie Axel sie mir an unserem ersten gemeinsamen Weihnachten geschenkt hat. Dann lege ich sie wieder in die Schatulle zurück. Krame in allen Fächern, finde nichts als Tand, rühre mit dem Mittelfinger darin herum und beschließe dann, die Schublade an der
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