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Je mehr ich dir gebe (German Edition)

Je mehr ich dir gebe (German Edition)

Titel: Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Autoren: Beate Dölling
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wurden sie ganz still und er legte eine Hand auf ihre Wange; sie schmiegte sich hinein. Alles passte: die Hand, die Wange, die Temperatur, die Geschwindigkeit, mit der er näher kam und sie auf einen Mundwinkel küsste. Es war wie kaum berührt, ein Flügelschlag. Dann blendete sich die Umgebung aus und sie versanken tief im Sessel. Jonas’ Lippen waren weich, seine Zunge lockte sie, ließ sie gewähren. Noch nie hatte sie so lange und ausgiebig geknutscht. Sonst artete Geknutsche schnell zu einem Gedrängel und Gefummel aus. Aber Jonas fummelte nicht, er küsste sie und ließ sich küssen, als müssten sie ihr Leben lang nichts anderes mehr tun.
    Sie kann noch immer seine Küsse spüren. Seinen Mund schmecken, fühlen, wie seine Zunge sich um ihre wälzt, seine Lippen an ihren saugen, knabbern. Aber jetzt ist da nur noch IHRE Zunge in ihrem Mund, nur EIN Mund übrig geblieben.
    Man muss der Realität ins Auge sehen.
    Sie möchte die Realität am liebsten wegschreien. Aber geschrien hat sie schon, auch in die Luft geschlagen, getreten. Das tut alles nicht gut. Doch wenn sie sich so sehr nach ihm sehnt, dass sie fast von innen verbrennt, dann muss sie irgendwas tun, um sich vom Schmerz abzulenken, sich kneifen, sich ohrfeigen, sich in den Bauch boxen – aber nein, das ginge zu weit. Sie ist ja nicht verrückt!
    Doch was ist sie dann?
    »Liebeskummer ist eine schlimme Krankheit«, sagt Mama.
    Aber Julia hat keinen Kummer. Kummer ist etwas Kleines, was man wegtrösten kann. Sie hat Schmerzen, so groß, als hätte man ihr mit der Axt den Körper gespalten und die zwei Hälften notdürftig wieder zusammengedrückt. Nur passen sie nicht mehr zusammen. Nichts passt mehr, seit Jonas nicht mehr da ist. Dabei spürt sie doch, dass er noch da ist. Wenn sie nur wüsste, wo. Sie würde alles darum geben, ihn wiederzutreffen.
    Am nächsten Tag steht sie am Kottbusser Damm, Ecke Urbanstraße. Sie weiß selbst nicht, wie sie hierhergekommen ist, zur Unfallstelle. Eine Mutter mit Kinderwagen fährt ihr in die Hacken und entschuldigt sich nicht mal. Türkische Frauen, mit dicken Hintern und dicken Plastiktüten, watscheln an ihr vorbei. Sie steht am Rand einer klaffenden Wunde. Kein Blut zu sehen, nur fließender Verkehr. – Die Sonne scheint, aus einem Auto schallt arabische Musik, Radfahrer sausen bei Rot über die Ampel. Alles fließt, rollt und geht, nur sie steht. Kein Schritt, nirgends – wohin auch? Es gibt kein Vor und kein Zurück. Aber wenn sie sich nicht einen Ruck gibt, klumpt sich ihr Herz in der Brust fest, fällt aus ihr heraus und wird von einem Lieferwagen überfahren. – Von einer Sekunde auf die andere schaltet sich das Leben aus.
    »Jehste nu – oder jehste nich?«, sagt ein alter Mann auf dem Fahrrad. Julia dreht sich um. Klack-Klack-Klack – immer geradeaus. Klack-Klack-Klack – und nicht zurück.

KAPITEL 6
    Abschied nehmen
    Sie will allein zur Beerdigung. Abschied nehmen, sagt die Psychologin, sei ganz wichtig. Davon, Jonas noch mal zu sehen, haben ihr alle abgeraten. Irgendwie haben sie ein Auge nicht mehr richtig hingekriegt, das ganze Gesicht sei deformiert. Gehirn sei auch nicht mehr viel vorhanden. Sie mussten ihn mit Mull ausstopfen. Sie will ihn auch nicht mehr sehen, im Sarg schon gar nicht. Das hat nichts mit ihrem Jonas zu tun. Den sieht sie sowieso, muss nur die Augen zumachen.
    Die Sonne scheint. Julia ist die Letzte, die durch das schmiedeeiserne Friedhofstor geht. Einen Fuß vor den anderen setzen, Schritt für Schritt. Gehen; es ist, als sei sie gar nicht hier, als schaue sie sich zu, wie in einem Film.
    Die Leute stehen im Schatten, verstecken ihre Gesichter, haben Taschentücher in den Händen, Blumen.
    KAMERA SCHWENKT
    Die Tür der kleinen Kapelle steht offen. Seine ganze Klasse scheint da zu sein. Auch Snickers und Rudi, aber zu denen will sie nicht.
    SCHNITT
    Seine Eltern in der ersten Reihe.
    SCHNITT
    Bloß nicht reden.
    Auf dem Dach der Kapelle sitzen Krähen, weiter oben quillt ein weißer Kondensstreifen durchs Himmelblau.
    SCHNITT
    Jemand sagt, es sei furchtbar und ungerecht, ihn so früh von uns genommen zu haben.
    Wer hat ihn genommen?
    Wer hat ihn ihr weggenommen?
    Warum hat man ihn ihr weggenommen?
    Julia, du darfst dich nicht in diese Denkspirale reinziehen lassen. Du musst vorher stoppen!
    STOPP
    Blätter rascheln, trudeln ihr vor die Füße. Dabei ist es noch gar nicht Herbst.
    Julia setzt ihre Sonnenbrille auf, bestimmt sieht sie jetzt aus wie eine Mafia-Witwe, in
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