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Je mehr ich dir gebe (German Edition)

Je mehr ich dir gebe (German Edition)

Titel: Je mehr ich dir gebe (German Edition)
Autoren: Beate Dölling
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dem schwarzen Kleid. Aber sie trägt die grünen Flip-Flops, die Jonas so geliebt hat, für ihn. Schau dir doch nur mal deine Füße an, wie schön sie sind, mit diesem grünen Streifen zwischen den Zehen. Und dann haben sie sich ihre Füße angeschaut und er hat einen Fuß in die Hand genommen und mit der Handfläche über ihre Fußsohle gestrichen, ist mit zwei Fingern um ihren Knöchel gekreist, erst um den äußeren, dann um den inneren und hat ihre Zehen geküsst, jeden einzeln; so hat sie ihre Füße das erste Mal richtig wahrgenommen.
    Sie hört die Flip-Flops an ihre Fußsohle schlappen, der Wind weht ihr das schwarze Kleid zwischen die Knie.
    NAHAUFNAHME DER WITWE. SCHNITT
    Es kostet Kraft, vorwärtszugehen. Nichts ist umsonst auf der Welt!
    Klack-Klack-Klack – an der Kapelle vorbei.
    »Wohin gehst du?«, fragt der Vogel.
    »In den Tod«, sagt der Mensch.
    »Man kann nicht in den Tod gehen«, sagt der Vogel.
    Vor ihr der Trauerzug. Sechs Männer tragen den Sarg; es geht leicht bergauf. Eine alte Frau mit grüner Gießkanne weicht aus, schaut dem Trauerzug hinterher; vor einem offenen Grab bleibt er stehen. Julia sieht durch die Menge hindurch die Grube.
    Endstation, bitte alle aussteigen! Ausstieg in Fahrtrichtung links.
    Sie kann nicht näher herangehen, der Abgrund zieht sie an, zieht sie hinein in die Kuhle, und dann wirft ihr noch jemand Sand auf den Kopf.
    Der Sarg wird an Seilen hinabgelassen, Erde geworfen. Man wechselt sich ab. Einige nehmen eine Kinderschaufel, andere die bloße Hand.
    Selig sind die, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Und du wirst niemals alleine sein.
    »Julia«, hört sie Jonas rufen. »Julia!«, als würde er hinter einer Platane hocken und seiner eigenen Beerdigung zusehen. Er lacht.
    »Komm zu mir, Julia!«
    Sie fährt herum, blinzelt gegen die Sonne, es ist plötzlich so hell. Da steht er tatsächlich, hebt eine Hand, kommt auf sie zu, in schwarzem Hemd, schwarzer Hose, großer Sonnenbrille. Er hat etwas in der Hand. Eine Hülle. Den Film.
    Der Himmel über Berlin.
    »Julia!«
    Es ist nicht der Film. Es ist eine CD.
    Er steht vor ihr. Fremd.
    Es ist gar nicht Jonas. Es ist Kolja.
    Er hat die Haare kürzer als sonst, heller, blonde Strähnchen.
    Sie gehen zusammen vom Friedhof. Er wollte die CD ins Grab tun, damit Jonas Musik bei sich hat: Stadtaffe , Peter Fox. Aber man darf keine CD ins Grab tun. Tote können keine Musik mehr hören, jedenfalls nicht von einer CD. Sie schaut auf das Cover. Hochhäuser im Hintergrund, alles ist grau. Einer seiner Lieblingssongs: Schwarz zu Blau .
    Eine Straße weiter ist ein Café. Die Leute sitzen draußen in der Sonne, lachen, trinken Latte Macchiato. Julia bestellt sich frisch gepressten Orangensaft. Kolja legt seine Hand auf ihren Arm, ganz sanft.
    Das tut gut. Der Orangensaft auch. Kalt und fruchtig.
    »Jonas hätte sich jetzt auch Orangensaft bestellt und ein Croissant dazu. Und auf das Croissant hätte er Zucker gestreut«, sagt Kolja.
    »Zucker?« Sie muss ein Weilchen überlegen, was Zucker ist. Und wie das schmecken könnte.
    »Wie lange kanntest du Jonas?«, fragt sie Kolja. Er hat seine Hand von ihrem Arm genommen.
    »Schon ewig. Wir haben uns im Buddelkasten kennengelernt. Er hat mir mit der Schaufel auf den Kopf gehauen, daraufhin habe ich ihm seinen Eimer weggenommen. Das ging dann ein Weilchen so weiter, bis wir Freunde wurden.«
    Julia sieht Jonas vor sich, als kleinen Jungen, mit der Schaufel und einem Eimer.
    »Und dann?«
    »Was und dann?« Koljas Stimme tut gut. Kolja soll noch mehr von Jonas erzählen.
    »Jonas und ich sind wie Brüder aufgewachsen. Derselbe Kindergarten, dieselbe Schule. Er liebte Lakritzschnecken, ich hasste Lakritzschnecken.«
    »Und Peter Fox mochtet ihr beide?«
    »Klar. Das war unsere erste richtig coole Musik. Wir waren damals gerade elf oder zwölf, hatten zwar noch nie eine Nacht im Club durchgemacht, aber Schnapsleichen, die frühmorgens irgendwo verwesen, und Kotze am Kotti hatten wir natürlich längst gesehen und konnten es gar nicht abwarten, auch endlich mal nachts zu leben, unter all den Stadtaffen von Berlin. Jonas hatte dann als Erster einen MP3-Player. Bis dahin hatten wir immer unsere CDs mit uns rumgeschleppt.«
    Kolja fängt an zu weinen. Julia legt ihre Hand auf seinen Arm, lässt ihn weinen, gibt ihm ein Taschentuch. Er weint um seinen besten Freund, atmet tief durch. Sein Atem zittert. Julia zittert es selbst im Hals. Sie kennt die Tränen, das Aufatmen.
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