Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Januskopf

Januskopf

Titel: Januskopf
Autoren: F Schmöe
Vom Netzwerk:
still zwischen den Ledersesseln. Dann machte Charlotte »Puuuh!«, fuhr sich erleichtert durchs Haar und sagte leise: »Endlich können wir offen reden.«
    Was Katinka in der nächsten halben Stunde erfuhr, klang märchenhaft und bedrückend zugleich. Die Geschichte erklärte, warum Charlotte ihren Mann als keinen gewöhnlichen Kunden beschrieben hatte, und verstärkte Katinkas Gefühl von drohendem Unheil.
    Ewald Isenstein war ein begeisterter Lehrer gewesen, der mit den Fächern Deutsch und Erdkunde nicht nur seinen Beruf, sondern auch seine Berufung gefunden hatte. Dann riss vor sechs Jahren ein Motorradfahrer Ewald auf dem Schulweg von seinem Fahrrad. Ewald zog sich schwere Kopfverletzungen zu. Seitdem litt er an epileptischen Anfällen und Persönlichkeitsveränderungen, die Charlotte als Dostojewski-Syndrom beschrieb. Sie bestand darauf, dass dies der korrekte medizinische Begriff sei.
    »Er ist ein völlig anderer Mensch geworden«, sagte Charlotte dumpf. »Es ist wie ein Riss in seinem Hirn. Früher war er positiv, sportlich, konnte Bäume ausreißen. Jetzt wechseln seine Stimmungen beinahe stündlich. Sie haben es doch bemerkt. Erst ist er zugänglich, freundlich und charmant, dann mit einem Mal wird er mürrisch oder zornig. Er kann unglaublich aggressiv sein. Er wird nicht handgreiflich, das nicht, aber er verströmt Groll und Wut.« Sie seufzte. »Er hat ein Gefühlsleben, bei dem ich nicht mehr mithalten kann. Wie soll ich das erklären ... er ist plötzlich religiös geworden. Nicht dass er in die Kirche gehen würde. Seine Religiosität bleibt privat. Sie ist düster, bedrohlich. Sie jagt ihm Angst ein.«
    Katinkas Stift raste übers Papier, während Charlotte weitererzählte. »Außerdem schreibt er wie ein Verrückter. Er nennt sich einen Schriftsteller, ohne auch nur ein einziges Buch verfasst zu haben. Er schreibt und schreibt, füllt bergeweise weiße Blätter. Hypergraphie nennt man das. Er lässt nicht mal einen Rand. Manchmal dreht er den Bogen um und schreibt zwischen den Zeilen weiter.«
    Katinka verkniff sich ein Grinsen. Für eine ordnungsliebende Frau wie Charlotte Isenstein, die ihre Zeitschriften mit dem Lineal zu stapeln schien, mochte es unerträglich sein, auf einem Blatt Papier keinen Rand zu lassen.
    »Manchmal redet er so viel, wie er schreibt. Denken Sie nicht, er würde irgendwelche sinnvollen Texte produzieren. Nein. Unzusammenhängendes, wirres Zeug. In rauen Mengen.« Charlotte sprang auf, als müsse sie ihrer Erregung nachgeben, und setzte sich wieder. »Es ist fast unerträglich, mit ihm zu leben. Am schlimmsten sind die Anfälle.«
    »Ich nehme an, das Haus in Königsberg ist mehr eine Zuflucht für Sie als für Ihren Mann?«, fragte Katinka.
    »Wenn er dort ist, kann ich aufatmen. Ich bin mehr als zehn Stunden täglich im Geschäft, denn die Atmosphäre hier im Haus ist unberechenbar.«
    Katinka nahm zum ersten Mal die vielen Fältchen um Charlotte Isensteins Augen wahr.
    »Kann Ihr Mann denn alleine bleiben, dort in Königsberg?«
    »Er bekommt Medikamente. Aber ich muss dafür sorgen, dass er sie nimmt. Nein, es wäre besser, er wäre nicht alleine dort. Aber ich kann manchmal einfach nicht mehr.«
    »Haben Sie Kinder?«
    »Zwei. Mariele und Markus. Sie sind schon erwachsen und aus dem Haus. Haben sich beide der Architektur verschrieben. Markus hat sein eigenes Büro gleich um die Ecke, an der Nonnenbrücke. Mariele studiert noch. Die beiden kommen selten in dieses Haus. Wir alle suchen den alten Ewald. Aber der ist unwiederbringlich verloren.«
    »Gibt es keine Therapien?«, wollte Katinka wissen, obwohl sich die Frage in ihren Ohren falsch anhörte.
    »Ich bin auf der Suche. Jeden Tag durchforste ich das Internet. Hypergraphie. Schläfenlappenepilepsie. Dostojewski-Syndrom. Noch habe ich nicht alles abgegrast.«
    Katinka sah Charlotte Isenstein vor sich, wie sie sich an der Computertastatur festhielt, um nicht durchzudrehen.
    »Haben Sie den Zeitungsartikel noch, in dem über den Mord berichtet wird?«
    »Nein, leider nicht. Ich habe die Zeitung noch am gleichen Tag zum Altpapier gegeben.«
    Katinka machte sich einen Vermerk.
    »Dieser Briefschreiber behauptet, Ewald würde noch weitere Verbrechen planen«, sagte Katinka sanft. »Wir können das nicht auf sich beruhen lassen. Ich muss das der Polizei melden.«
    Charlotte klappte das Kinn herunter.
    »Aber – nein! Ewald hat niemanden umgebracht. Er hat seine Probleme und seine Stimmungsschwankungen, aber er ermordet
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher