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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Autoren: Jonathan Kellerman
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haben.«
    »Wieso?«
    Er räusperte sich und wandte sich ein wenig verlegen ab.
    »Du bist in Sicherheit, du kannst offen reden oder auch nicht, ganz wie du willst.«
    Er dachte darüber nach, benetzte die Lippen mit der Zunge.
    »Ich habe Sie angerufen, und Sie haben mir wirklich geholfen.«
    Es war bedrückend, zu sehen, wie wenig Zutrauen dieser Junge hatte.
    »Früher, wenn ich einen Doktor brauchte, hat Onkel Dwight nie …«<
    Er brach ab. »Nein, es ist sinnlos, darüber zu reden, finden Sie nicht?«
    »Ich glaube, du hast Recht.«
    Er betrachtete die Bäume um uns herum und sagte:
    »Es ist zu kalt hier drin, können wir noch ein bisschen laufen?«
    »Gerne.«
    Wir gingen schweigend die Wiese zum Krankenhaus hinauf. Jamey versuchte, seine Hände in die Taschen zu stecken, aber seine Beine wurden unsicher, und er drohte zu fallen. Ich hielt ihn am Arm fest.
    »Komm, wir ruhen uns ein wenig aus«, sagte ich.
    »Gut.«
    Er klappte zusammen wie ein Liegestuhl. Ich half ihm, sich hinzulegen. Er fasste wieder an seine Nase und sagte:
    »Ich werde immer stärker.«
    »Du bist dabei, gesund zu werden.«
    Einige Minuten vergingen. Dann sagte er:
    »Sie haben mich alle gehasst.« Er sprach diese Worte ohne jedes Selbstmitleid. Sein Blick aber war voller Qual, und ich wusste, dass er sich fragte: Was habe ich getan, dass sie mir gegenüber so fühlten?
    »Das hatte gar nichts mit dir zu tun«, sagte ich. »Sie behandelten dich so schlecht, um zu rechtfertigen, was sie dir antaten.«
    »Sie sind weg, für immer«, sagte er ungläubig. »Weg von der Bühne. Ich kann es nicht glauben.« Er pflückte eine Pusteblume, strich damit über seine Lippe, zerrieb sie zwischen den Fingern und beobachtete, wie die einzelnen Samen in den Himmel flogen.
    »Genauso geht es mir, ich schwebe durch den Raum und habe keinen festen Anker.«
    »Gefällt dir das?«
    »Ich habe ein Gefühl der Freiheit dabei, aber manchmal …«
    »Was ist manchmal?«
    »Ist es ganz schrecklich«, sagte er plötzlich heftig. »Manchmal wünschte ich mir, tief unter der Erde zu sein, fest eingeschlossen. Verstehen Sie das?«
    »Ich verstehe das sehr gut.«
    Er seufzte erleichtert, schloss die Augen, lehnte sich zurück und wärmte sein Gesicht in der Sonne. Bald perlte Schweiß auf seiner Stirn, obwohl eine kühle Brise vom Meer her wehte. Er öffnete den Mund und gähnte.
    »Müde, Jamey?«
    »Ich kriege hier immer so viel zu essen, Steaks gibt es schon zum Frühstück, ich werde davon ganz träge.«
    Nach einer Weile fuhr er fort:
    »Sie sind alle sehr nett zu mir.«
    »Da bin ich sehr froh. Dr. Levi sagte mir, dass du wieder besser schlafen kannst.«
    »Manchmal, wenn ich nicht diese Schmerzen habe.«
    »Die Schmerzen des Erinnerns?«
    »Ja.«
    »Das muss sein wie schlechte Träume.«
    »Vielleicht sind es welche, ich weiß es nicht genau.«
    »Sicher machen sie dir Angst.«
    Er blickte zu Boden, seine Pupillen weiteten sich, Blau wich dem Schwarz.
    »Ich kann hier einfach so liegen, ohne irgendwas zu tun. Und plötzlich taucht vor meinem Geist etwas Finsteres, Hässliches auf und dringt in mein Unterbewusstsein.«
    »Was für finstere Dinge?«
    »Das ist es ja gerade, ich weiß es nicht. Manchmal kommt es mir vor wie Abfall, wie etwas Verwestes. Es ist scheußlich und abstoßend, wie Müll. Ich könnte schwören, dass ich es rieche, aber wenn ich versuche, es zu beschreiben, nehme ich keinen Geruch mehr wahr. Ergibt das einen Sinn?«
    Ich nickte, und er fuhr fort:
    »Vor ein paar Nächten dachte ich, es sei der Schatten eines Ungeheuers - ein Freund oder Jack the Ripper, der sich hinter einem Felsen versteckt. Das klingt verrückt, nicht?«
    »Nein, ganz und gar nicht. Was für Bilder siehst du noch?«
    »Ich weiß es nicht … vielleicht … Es ist so hässlich! Es lässt mir keine Ruhe, es kratzt gegen die innere Oberfläche meiner Stirn, aber es bleibt verborgen in seinem Schlupfwinkel. Vielleicht ist es ein Insekt, ich weiß es nicht, denn ich bekomme es nicht in meine Gewalt.«
    »Ist es so, wie wenn einem ein Wort auf der Zunge liegt und man es nicht findet?« Er nickte.
    »Es macht mich ganz verrückt, mir dreht sich der Kopf.«
    »Gedanken-Qual« hatte Deborah Levi diesen Zustand genannt. »Eine große Menge unverarbeiteter Erlebnisse bedrückt ihn, will an die Oberfläche des Bewusstseins, aber es ist noch zu früh dazu. Wenn er es zwingen will, bekommt er starke Kopfschmerzen und kann nachts nicht schlafen. Er nennt das Erinnerungsschmerzen. Ich
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