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Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Autoren: Jonathan Kellerman
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und streckte sie wieder. Er legte die Hände in den Schoß und sah weit auf den Ozean hinaus. Zwei Möwen gerieten in einen Kampf um etwas Essbares. Sie hüpften und kreischten, bis die schwächere aufgab. Die Siegerin sprang einige Meter weiter und fraß ihre Beute.
    »Du siehst gut aus«, sagte ich.
    »Danke.«
    »Dr. Levi erzählte mir, dass du große Fortschritte machst.«
    Er stand auf und hielt sich am Maschendraht fest. Er sagte etwas, aber es wurde vom Rauschen der Wellen verschluckt. Ich stand auf und stellte mich zu ihm.
    »Ich habe dich nicht verstanden«, sagte ich.
    Er antwortete nicht, sondern hielt sich immer noch am Zaun fest und schwankte leicht hin und her.
    »Es geht mir ziemlich gut, aber es schmerzt.«
    »Was sind das für Schmerzen?«
    »Angenehme Schmerzen, es ist wie ein erfrischender Schlaf nach einem anstrengenden Tag.«
    Nach einigem Schweigen fuhr er fort:
    »Gestern bin ich sogar schon spazieren gegangen.«
    Ich wartete, bis er weitersprach.
    »Zusammen mit Susan, ein- oder zweimal musste sie mich festhalten. Aber sonst haben meine Beine es gut geschafft.«
    »Das ist ja toll.«
    Die Neurologen waren nicht sicher gewesen, ob die Schädigung seines Nervensystems je wieder rückgängig zu machen sei. Aber es hatte sich bisher schon gut regeneriert, und die Aussichten, dass es bald noch besser ging, waren groß.
    »Susan hilft mir sehr, sie ist ziemlich stark.«
    »Sie mag dich offenbar sehr gerne.«
    Er blickte aufs Meer und begann zu weinen.
    »Jamey, was hast du?«
    Er weinte immer mehr, ließ den Zaun los, stolperte und setzte sich wieder auf die Bank. Er wischte sich das Gesicht mit seinen Händen ab und schloss die Augen, aus denen immer noch Tränen liefen.
    Ich legte ihm eine Hand auf die Schulter, sie war knochig und mager.
    »Was ist denn, Jamey?«
    Er weinte noch heftiger, dann fasste er sich und sagte:
    »Die Leute sind so nett zu mir.«
    »Du verdienst es, dass man nett zu dir ist.«
    Er stand auf, hielt sich am Zaun fest und ging mit kleinen, vorsichtigen Schritten am Rand der Klippe entlang. Ich ging neben ihm.
    »Das ist so verwirrend.«
    »Was findest du verwirrend?«
    »Dr. Levi hat mir erzählt, dass ich Sie angerufen habe und Sie um Hilfe bat. Ich kann mich nicht daran erinnern«, sagte er entschuldigend. »Und jetzt sind Sie hier. Es ist, als wäre zwischendurch gar nichts geschehen.«
    Er wandte sich um und ging langsam auf die Bungalows zu, streckte die Arme aus, um sein Gleichgewicht zu halten. Er bewegte sich sehr vorsichtig, wie jemand, der eine Prothese trägt. Ich lief dicht neben ihm, bemühte mich, langsam zu gehen, und versank bis zu den Knöcheln im tiefen Gras und Klee.
    »Aber es stimmt nicht, oder? Es ist sehr viel geschehen seitdem.«
    »Ja, allerdings.«
    »Schreckliche Dinge sind passiert. Menschen sind fort, für immer.«
    Er kämpfte mit den Tränen, sah geradeaus und ging weiter. Gegenüber den Bungalows lag ein Picknickplatz, auf dem Bänke und Tische aus Fichtenholz standen, Sonnenschirme boten Schatten. Eine rote Gestalt erhob sich von einer Bank und winkte. Jamey winkte zurück.
    »Hallo, Susan«, sagte er, obwohl sie ihn nicht hören konnte.
    »Das ist alles ganz normal für jemanden, der so Schlimmes durchgemacht hat. Nimm dir ruhig Zeit, dich wieder zurechtzufinden.«
    Er lächelte schwach.
    »Haben Sie mit Dr. Levi gesprochen?«
    »Dr. Levi ist eine sehr liebe und kluge Frau.«
    »Ja. Sie sagte mir, dass Sie befreundet sind.«
    »Sie war Ärztin in der Psychiatrie, als ich noch studierte. Wir haben viel im Bereitschaftsdienst zusammengearbeitet. Du bist wirklich in besten Händen.«
    Jamey nickte.
    »Sie setzt mich wieder richtig zusammen«, sagte er leise und steuerte auf einen Zypressenhain zu. Wir kamen an einem Paar im mittleren Alter und einem etwa achtzehnjährigen Mädchen vorbei. Das Mädchen war pausbäckig und trug einen unförmigen Kittel in freudlosen Farben. Sie hatte ein schönes Gesicht, aber sie sah traurig aus. Ihre Augen blickten ins Leere. Sie strickte mit ihrem Haar, benutzte die Finger als Nadeln. Sie zwirbelte es und zog daran, ließ es los und begann von neuem. Ihr Vater trug einen dunklen Anzug mit Krawatte und wandte ihr den Rücken zu; er trug eine dicke Brille und las Michener. Ihre Mutter stierte uns an, als wir vorbeikamen.
    Wir fanden eine kühle, schattige Stelle, und Jamey setzte sich auf einen Baumstumpf. Ich lehnte mich gegen einen Stamm.
    »Seltsam, dass Sie Dr. Levi für mich gefunden
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