Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Jamey. Das Kind, das zuviel wußte

Titel: Jamey. Das Kind, das zuviel wußte
Autoren: Jonathan Kellerman
Vom Netzwerk:
dagestanden, schmutzig, verschüchtert, in Selbstgespräche vertieft … Sie setzten sich auf eine Bank, und dann sagte Jamey ihm, er habe ein Buch bei sich, das so wichtig sei, dass er deswegen umgebracht werden könnte. Er zog es aus dem Mantel hervor, reichte es Yamaguchi und sagte ihm, er sei sein einziger Freund, und es sei seine Pflicht, das Buch in Sicherheit zu bringen. Bevor Yamaguchi ein Wort sagen konnte, rannte er fort.
    Yamaguchi dachte, das Ganze sei nur ein verrückter Einfall von Jamey, und wollte das Buch in die nächste Mülltonne werfen. Er nahm es trotzdem mit nach Hause, warum, weiß er nicht mehr, legte es in eine Schublade und vergaß es. Nach Jameys Einweisung in die Anstalt überlegte er, ob vielleicht doch was an der Geschichte dran sei, aber er sah es sich trotzdem nicht genauer an. Nach dem Mord an Chancellor nahm er es zur Hand und las darin. Er behauptet allerdings, dass er die Lektüre langweilig fand und nach wenigen Seiten aufgab. Er beschloss, es in eines seiner Kunstwerke einzubauen. Da Jamey ihm vom Selbstmord seines Vaters erzählt hatte, brachte er das Buch mit einer solchen Szene in Verbindung. Er fand das recht geistreich und meinte, der Tod sei ohnehin die Quelle aller Kunst.«
    »Hat er das Buch nie ganz gelesen?«
    »Falls er es tat, hat er nicht begriffen, was im Bitter Canyon los ist, denn er fuhr nie dorthin.«
    »Das hätte er auch sonst nicht getan. Er spielt den Nihilisten, dem alles gleichgültig ist.«
    Milo dachte einen Augenblick nach.
    »Ja, da hast du wahrscheinlich Recht. Als ich ihn fragte, ob er das Buch für wichtig gehalten hätte, als er es eingipste, sagte er nur, diese Frage sei vollkommen irrelevant, und lächelte ironisch. Als ich nicht locker ließ, gab er zu, dass er gehofft hatte, dass es wichtig sei, weil er die Idee, dass es bei jemandem an der Wand hinge, ohne dass er das wüsste, sehr lustig fände. Dann erzählte er mir eine Menge Unsinn über Kunst und schlechte Witze und dass beide dasselbe seien. Ich fragte mich, ob deshalb Mona Lisa lächelt, aber da ließ er mich abblitzen. Ein sehr schlauer Junge, der aber mit der ganzen Sache nichts zu tun hat. Deshalb habe ich ihn laufen lassen.«
    »Weiß man, weshalb Jamey das Buch vor Chancellor verbarg?«, fragte ich.
    »Nein.«
    »Ich habe mir überlegt, ob Sie sich vielleicht gestritten haben. Jamey wollte das Tagebuch benutzen, um den Bau aufzuhalten, als er aber sah, dass es Chancellor nur um den eigenen Vorteil ging, nahm er es fort und gab es Gary zur Aufbewahrung. Bei dem nihilistischen Gary konnte er sicher sein, dass er es nie benutzen würde.«
    Nach längerem Schweigen sagte Milo:
    »Wenn Jamey überhaupt noch in der Lage war, so zu denken.«
    »Wahrscheinlich hast du Recht. Es war Wunschdenken von mir. Er war damals schon sehr durcheinander.«
    »Nicht so durcheinander, dass er nicht mehr um Hilfe rufen konnte.«
    Ich sagte nichts darauf.
    »Mensch, das war dein Einsatz, du solltest jetzt etwas Feierliches über die Unzähmbarkeit des menschlichen Geistes sagen.«
    »Sieh es als gesagt an.«
    »Sieh deine Worte als gewürdigt an.«
    Nachdem Milo aufgelegt hatte, beendete ich mein Frühstück, rief die Telefonzentrale an und sagte, wo ich sei. Sie sagten mir, ein Richter des Superior Court habe angerufen und bäte um Rückruf. Da ich den Mann sehr schätzte, rief ich gleich an. Er bat mich, als Gutachter in einem Scheidungsprozess zwischen einem reichen Filmproduzenten und einer bekannten Schauspielerin aufzutreten. Nach Meinung des Ehemanns war die Mutter kokainabhängig und seelisch schwer gestört. Nach Meinung der Ehefrau war der Mann grausam, korrupt und hatte sexuelle Beziehungen zu Kindern. Keiner von den beiden wollte sich um die vierjährige Tochter kümmern, beide waren überzeugt, der jeweils andere wolle das Sorgerecht. Die Schaupielerin hatte das Kind nach Zürich geschickt, und es bestand Aussicht für mich, dorthin zu reisen, um die näheren Umstände kennen zu lernen.
    Ich sagte dem Richter, das Ganze höre sich nach einer absoluten Katastrophe an, die deshalb noch lange weiterexistieren würde, weil zwei narzisstische Eltern Geld genug hätten, um sich Anwälte zu leisten, die gerne für den Fortbestand der Katastrophe sorgen würden. Er lachte traurig und gab mir Recht, aber er fügte hinzu, er habe mich trotzdem gefragt, weil er wisse, dass ich Aufregung liebe. Ich dankte ihm, dass er an mich gedacht hatte, und lehnte ab.
    Um neun ging ich in den Garten, um die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher