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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry
Autoren: Benvolio
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weil sie fürchtete, ihr würden wieder die Tränen kommen. Doch ich merkte schnell, dass sie in der kurzen Zeit, die verstrichen war, seit ich sie verlassen hatte, bereits all ihre Tränen vergossen hatte und dass sie jetzt nichts mehr erschüttern konnte – sie war vollkommen gefasst.
    « Mein armer Vetter hat Sorgen», sagte sie schließlich.«Seine Nachrichten waren schlecht.»Dann, nach kurzem Zögern:«Er benötigte dringend Geld.»
    « Ihr Geld, meinen Sie?»

    « Alles Geld, das er auf ehrliche Weise bekommen konnte. Meines war das einzige.»
    « Und er hat es genommen?»
    Wieder zögerte sie einen Augenblick, sah mich aber währenddessen flehentlich an.«Ich habe ihm gegeben, was ich hatte.»
    Der Ton, in dem sie das sagte, ist mir über all die Jahre hinweg als die engelhafteste Äußerung eines Menschen in Erinnerung geblieben, die ich je vernommen habe. Doch damals sprang ich geradezu empört auf.«Gütiger Himmel!», rief ich.«Nennen Sie das ‹auf ehrliche Weise bekommen›? »
    Ich war zu weit gegangen; sie errötete heftig.« Ich will nicht darüber sprechen», sagte sie.
    « Wir müssen aber darüber sprechen», antwortete ich, während ich mich wieder setzte.«Ich bin Ihr Freund; mir scheint, Sie brauchen einen. Was ist los mit Ihrem Vetter?»
    « Er hat Schulden.»
    « Zweifellos! Aber weshalb sollen ausgerechnet Sie seine Schulden bezahlen?»
    « Er hat mir die ganze Geschichte erzählt; er tut mir sehr leid.»
    « Mir auch! Aber ich hoffe doch, er wird Ihnen Ihr Geld zurückzahlen.»
    « Gewiss wird er das; sobald er kann.»

    « Wann wird das sein?»
    « Wenn er sein großes Gemälde fertiggestellt hat.»
    « Meine liebe junge Dame, zum Teufel mit seinem großen Gemälde! Wo ist dieser unselige Vetter?»
    Nun zögerte sie unübersehbar, dann sagte sie:« Beim Abendessen.»
    Ich drehte mich um und blickte durch die offene Tür in den Speisesaal. Dort entdeckte ich, allein am Ende eines langen Tisches, das Objekt von Miss Spencers Mitgefühl – den intelligenten jungen Kunststudenten. Er war zu sehr mit dem Essen beschäftigt, als dass er mich sogleich bemerkt hätte; doch während er ein bis zur Neige geleertes Weinglas absetzte, fiel sein Blick auf mich, und er sah, dass ich ihn beobachtete. Er hielt in seiner Mahlzeit inne; den Kopf zur Seite geneigt und seine hageren Kiefer langsam bewegend, erwiderte er unverwandt meinen Blick. Dann streifte die Wirtin mich leicht, die mit ihrer Aprikosenpyramide an mir vorbeiging.
    « Und dieser schöne kleine Obstteller ist für ihn?», rief ich.
    Miss Spencer betrachtete das Kunstwerk liebevoll.« Sie machen das hier so hübsch!», murmelte sie.

    Ich war wütend und ratlos.«Nanu», sagte ich,« heißen Sie wirklich gut, dass dieser lange starke Kerl Ihr Geld annimmt?»Sie wandte den Blick ab; offensichtlich schmerzten sie meine Worte. Der Fall war hoffnungslos: Der lange starke Kerl hatte sie für sich eingenommen.
    « Verzeihen Sie, wenn ich so ungeniert spreche», sagte ich.«Aber Sie sind wirklich zu großmütig, und er benimmt sich nicht sehr anständig. Er hat seine Schulden selbst gemacht – er sollte sie auch selbst bezahlen.»
    « Er war töricht», antwortete sie,«das weiß ich. Er hat mir alles erzählt. Wir haben uns heute Vormittag lange unterhalten; der arme Kerl hat sich meiner Barmherzigkeit anvertraut. Er hat für eine große Summe Schuldscheine gezeichnet. »
    « Er ist wirklich ein Tor!»
    « Er befindet sich in außerordentlicher Bedrängnis. Und nicht nur er. Da ist auch noch seine arme Frau.»
    « Ach, er hat eine arme Frau?»
    « Ich wusste es auch nicht – aber er hat mir alles gebeichtet. Er hat vor zwei Jahren heimlich geheiratet.»
    « Warum heimlich?»
    Caroline Spencer blickte sich um, als fürchte
sie, jemand könnte uns belauschen; dann sagte sie leise in eindringlichem Ton:«Sie war eine Gräfin!»
    « Sind Sie ganz sicher?»
    « Sie hat mir einen wunderschönen Brief geschrieben. »
    « In dem sie Sie um Geld bittet?»
    « In dem sie mich um Vertrauen und Mitgefühl bittet», sagte Miss Spencer.«Sie ist von ihrem Vater enterbt worden. Mein Vetter hat mir die Geschichte erzählt, und sie erzählt sie in dem Brief noch einmal mit ihren eigenen Worten. Es ist wie in einem alten Märchen. Ihr Vater war gegen die Heirat, und als er herausfand, dass sie heimlich gegen seinen Willen gehandelt hatte, verstieß er sie grausam. Es ist wirklich sehr romantisch. Sie sind die älteste Familie in der Provence.»
    Verwundert sah
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