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James, Henry

James, Henry

Titel: James, Henry
Autoren: Benvolio
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und in dieser Eigenschaft hatte sie offensichtlich einen besonderen Leckerbissen parat. Dessen war ich mir ebenso sicher, wie ich mir sicher war, dass die arme Mrs Latouche trotz ihres schmerzlichen Verlusts in der Lage war, ihr zuzuhören. Es schien mir taktvoll, mich zurückzuziehen; ich sagte, ich wolle vor dem Essen noch ein wenig spazieren gehen.
    « Ach, übrigens», fügte ich hinzu,«wenn Sie mir verraten, wo meine alte Freundin Miss Spencer wohnt, werde ich einen Spaziergang zu ihrem Haus machen.»

    Die Pfarrersfrau antwortete umgehend. Miss Spencer wohne im vierten Haus nach der Baptistenkirche; die Baptistenkirche sei die auf der rechten Seite, mit dem komischen grünen Ding über der Tür; sie bezeichneten es ja als Portikus, aber es sehe mehr wie ein altmodisches Bettgestell aus.
    « Ja, tun Sie das, besuchen Sie die arme Caroline», sagte Mrs. Latouche.«Es wird ihr guttun, ein fremdes Gesicht zu sehen.»
    « Ich könnte mir denken, Sie hat genug von fremden Gesichtern!», rief die Pfarrersfrau.
    « Ich meine, einen Besucher zu empfangen», verbesserte sich Mrs Latouche.
    « Ich könnte mir denken, sie hat auch genug von Besuchern!», entgegnete ihre Gefährtin.« Aber Sie haben ja nicht vor, zehn Jahre zu bleiben», fügte sie mit einem schnellen Blick auf mich hinzu.
    « Hat Sie denn einen solchen Besucher?», fragte ich verwirrt.
    « Eine Besucherin, Sie werden sie schon sehen!», sagte die Pfarrersfrau.«Man kann sie gar nicht übersehen, sie sitzt meistens im Vorgarten. Aber passen Sie auf, was Sie zu ihr sagen, und seien Sie unbedingt höflich.»
    « Ach, ist sie so empfindlich?»

    Die Pfarrersfrau sprang auf und machte einen Knicks vor mir – einen höchst ironischen Knicks.
    « Das ist sie in der Tat, wenn’s recht ist. Sie ist eine Gräfin!»
    So, wie die kleine Frau dieses Wort in vernichtendem Ton hervorstieß, schien sie der Gräfin geradezu ins Gesicht zu lachen. Ich stand einen Augenblick lang da, starrte sie an, überlegte, erinnerte mich.
    « Oh, ich werde sehr höflich sein», rief ich, nahm meinen Hut und meinen Stock und machte mich auf den Weg.
    Ich fand Miss Spencers Zuhause ohne Mühe. Die Baptistenkirche war leicht zu erkennen, und das kleine schmutzig weiße Haus in ihrer Nähe mit einem großen Schornsteinkasten in der Mitte und wildem Wein an der Fassade schien die natürliche und passende Unterkunft für eine genügsame alte Jungfer mit einer Vorliebe für das Pittoreske. Als ich näher kam, verlangsamte ich meine Schritte, denn ich hatte ja gehört, dass immer jemand im Vorgarten sitze, und ich wollte erst einmal die Lage erkunden. Ich lugte vorsichtig über den niedrigen weißen Zaun, der den kleinen Gartenbereich von der ungepflasterten Straße trennte, doch ich entdeckte
nichts, was wie eine Gräfin aussah. Ein schmaler, gerader Pfad führte zu der schiefen Stufe vor der Haustür, und zu beiden Seiten des Pfades befand sich eine kleine, von Johannisbeersträuchern gesäumte Rasenfläche. In der Mitte dieser Rasenflächen stand jeweils ein großer knorriger Quittenbaum von ehrwürdigem Alter, und unter einen der Quittenbäume hatte man einen kleinen Tisch und zwei Stühle gestellt. Auf dem Tisch lagen eine unvollendete Stickarbeit und zwei, drei Bücher, eingeschlagen in leuchtend buntes Papier. Ich trat durch das Tor und ging auf das Haus zu. Auf halbem Weg blieb ich stehen, um mich nach einem weiteren Hinweis auf seine Bewohnerin umzusehen, vor der zu erscheinen ich – ohne dass ich genau hätte sagen können, warum – plötzlich zögerte. Da fiel mir auf, dass das ärmliche kleine Haus sehr heruntergekommen war. Ich zweifelte mit einem Mal an meinem Recht, hier einzudringen; Neugier hatte mich dazu getrieben, und Neugier schien hier ausgesprochen taktlos. Während ich noch zögerte, tauchte eine Gestalt in der offenen Tür auf und musterte mich. Ich erkannte Caroline Spencer sofort, doch sie sah mich an, als hätte sie mich noch nie zuvor gesehen. Langsam und befangen, aber festen Schrittes näherte ich mich
der Tür, und bemüht, mit einem Scherz das Eis zu brechen, sagte ich:«Ich habe drüben auf Ihre Rückkehr gewartet, aber Sie sind nicht zurückgekommen. »
    « Wo gewartet, Sir?», fragte sie sanft, und ihre hellen Augen weiteten sich noch mehr.
    Sie war sehr gealtert; sie wirkte müde und abgehärmt.
    « Nun, in Havre», antwortete ich.
    Sie starrte mich an; dann erkannte sie mich. Sie lächelte, errötete und verschränkte die Hände.« Jetzt erinnere ich
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