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Begraben

Begraben

Titel: Begraben
Autoren: Elena Sender
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    6.   Oktober
    Dr.   Cyrille Blake sah auf die Uhr. Zehn nach acht. In fünfundfünfzig Minuten würde ihr Leben ins Wanken geraten, ohne dass sie es hätte ahnen oder verhindern können.
    Die Neuropsychiaterin klopfte zweimal an die Tür von Zimmer 1 im ersten Stock des Centre Dulac, das sie gegründet hatte und seit nunmehr fünf Jahren leitete. Keine Antwort. Sie trat ein. Ihre Patientin Pauline Baptiste saß auf dem Bett, die rosafarbene Decke über die Beine gezogen, und starrte geistesabwesend hinaus auf den wolkenverhangenen Himmel.
    Die brünette Frau war zwischen fünfunddreißig und vierzig Jahre alt – also etwa in ihrem Alter –, doch ihre Welt war aus den Fugen geraten. Ihr Ehemann und zwei ihrer drei Kinder waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Geblieben waren ihr lediglich drei Urnen und ein vier Monate altes Baby, das sie, außerstande, es selbst zu versorgen, ihren Eltern anvertraut hatte. Sie hob das blasse Gesicht, das gezeichnet war von Schlaflosigkeit, den vielen unbeantworteten existenziellen Fragen und tiefem Schmerz. Sie richtete die dunkel umschatteten Augen auf die Ärztin. Pauline hatte sie nach ihrem Selbstmordversuch um Hilfe gebeten. Das Zimmer war klein und schlicht, mit Holzjalousien an den Fenstern und einem Kelim auf dem Boden. Die Patientin fühlte sich hier zwar nicht zu Hause, aber auch nicht unwohl.
    »Wie haben Sie geschlafen, Pauline?«
    Cyrille Blake setzte sich auf die Bettkante. Die junge Frau zog die Knie an die Brust.
    »Besser. Ohne Albträume.«
    Die Hand von Dr.   Blake suchte die ihrer Patientin, sie war eiskalt.
    »Zittern, Angstattacken?«
    »Nein, gar nicht mehr.«
    »Erstickungsgefühle?«
    »Auch nicht.«
    »Selbstmordgedanken?«
    Pauline Baptiste schüttelte energisch den Kopf. Es ging ihr nicht gut, aber schon sehr viel besser als letzte Woche. Der Schraubstock, der ihre Brust einengte, hatte sich gelockert, und der Kloß in ihrem Hals löste sich langsam auf.
    Dr.   Blake schenkte ihr ein offenes Lächeln.
    »Perfekt. Doktor Mercier holt Sie heute Vormittag zur Kernspin ab. Wir wollen sehen, ob sich Ihr Gehirn seit Beginn unserer Behandlung erholt hat. Anschließend können Sie wieder nach Hause.«
    Pauline streckte ihre Hände vor sich aus.
    »Ich schwitze und zittere nicht mehr … Was ist das noch mal für ein Medikament, das Sie mir gegeben haben?«
    »Meseratrol.«
    »Ist das ein Antidepressivum, ein Angstlöser oder so was Ähnliches?«
    Cyrille Blake schüttelte den Kopf.
    »Nein, es handelt sich um eine neue Kategorie von Molekülen. Sie beruhigen das Gehirn, lindern den empfundenen Schmerz, machen ihn erträglicher.«
    »Ja, das stimmt … Ich fühle mich weniger … bedrückt.«
    »Wir testen es seit mehreren Jahren an Kriegsveteranen und an Opfern von Attentaten oder Unfällen. Die Ergebnisse sind mittel- wie auch langfristig sehr ermutigend.«
    »Sind Sie sicher, dass es zuverlässig wirkt?«
    Cyrille Blake drückte ihr die Hand und redete sanft auf sie ein:
    »Mein Mann hat die antitraumatischen Eigenschaften dieser Moleküle vor einigen Jahren entdeckt. Wir haben die Wirkung perfekt im Griff.«
    Pauline Baptiste nickte.
    »Dann hat man ihn deswegen für den Nobelpreis vorgeschlagen, stimmt’s?«
    Erstaunt darüber, dass ihre Patientin auf dem Laufenden war, zog Cyrille Blake die Augenbrauen hoch.
    »Ja, unter anderem …«
    Pauline Baptiste lächelte schwach.
    »Danke für alles, was Sie getan haben, Frau Doktor. Auch im Namen meines Babys. Ich hole es morgen bei meiner Mutter ab. Es braucht mich.«
    »Ja, es braucht Sie. Sie müssen durchhalten, für das Baby, für sich selbst, für die Menschen, die Sie lieben … und auch für uns. Wir alle wollen, dass es Ihnen besser geht.«
    Die beiden Frauen saßen einen Augenblick schweigend da. Wenn Cyrille doch nur ein wenig von diesem Schmerz auf ihre eigenen Schultern laden könnte … Sie zwang sich, das in ihr aufsteigende Gefühl der Ohnmacht zu unterdrücken, erhob sich schließlich und winkte Pauline beim Hinausgehen aufmunternd zu.
    Um 8   Uhr   25 öffnete Cyrille die Tür zu ihrem Büro, auf der ein glänzendes Kupferschild mit der Aufschrift »Dr.   Cyrille Blake« prangte – ein Geschenk ihres Mannes. Wie sooft fragte sie sich, was sich ihre Eltern wohl dabei gedacht hatten, ihr einen solchen Namen zu geben. Diesen männlichen, in der weiblichen Form so wenig geläufigen Vornamen zu tragen, war nicht immer leicht gewesen. Im Sportunterricht des Gymnasiums war ihr
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