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Begraben

Begraben

Titel: Begraben
Autoren: Elena Sender
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Name häufig versehentlich auf der Liste der Jungen gelandet, und sie musste ihn buchstabieren, damit er richtig geschrieben wurde … ganz zu schweigen von den Hänseleien. Auch wenn er immer noch Befremden auslöste, gefiel es ihr inzwischen, einen seltenen Vornamen zu tragen, der noch dazu »die Herrliche« bedeutete …
    Cyrille schob ein Pad in die Espressomaschine. Das japanisch eingerichtete Sprechzimmer bot einen prächtigen Blick auf die Bambuspflanzen des Innenhofs. Mit der Tasse in der Hand stand sie einen Moment am Fenster und nahm dann an ihrem Schreibtisch Platz. Sie verscheuchte das Gefühl der Traurigkeit, das sie angesichts des Leids ihrer Patientin verspürt hatte. Sie musste sich, wie immer, bemühen, die nötige Distanz und Neutralität zu wahren. Doch manchmal fiel ihr das schwer.
    Sie seufzte und zwang sich, Pauline Baptiste in einer Schublade ihres Gehirns abzulegen und positiv zu denken. Dabei hatte der Tag eigentlich recht gut begonnen. Das Meseratrol zeigte hervorragende Ergebnisse bei der Bekämpfung schwerer Traumata und vermochte – das hatte sie gerade wieder gehört – die schlimmsten Schmerzen der Seele zu mildern. Das Medikament hatte eine vorläufige Arzneimittelzulassung für fünf Jahre erhalten, die verlängert werden würde, wenn sich die therapeutische Wirksamkeit durch weitere Studien belegen ließe. Als nächsten Schritt wollte sie die unbegrenzte Zulassung für die Behandlung schwerer Traumata erreichen sowie eine Erweiterung der Indikation auf leichtere Fälle. In neun Tagen würde sie auf dem Jahreskongress für Neuropsychiatrie in Bangkok das Medikament offiziell vorstellen und hoffte, damit zum erwarteten Erfolg beizutragen. Zum zehnten Mal bereits würde sie in die thailändische Hauptstadt fliegen, sie freute sich schon. Cyrilles Arbeit war zwar eine ständige Herausforderung, bot aber auch so manche Entschädigung, wie zum Beispiel diese Tage im luxuriösen Hilton Hotel am anderen Ende der Welt. Die würde sie ausgiebig genießen.
    Es war noch früh. Sie atmete tief durch und ließ den Kopf ein paarmal kreisen. Ihre Nichte und Assistentin Marie-Jeanne hatte das Krankenblatt ihres ersten Patienten sorgfältig ausgefüllt auf den Schreibtisch gelegt. Auf der blauen Mappe las sie: Julien Daumas.
    Der Name war ihr unbekannt. Eine neue Herausforderung wartete.
    8   Uhr   30. Sie schlug die Akte auf.
    Name: Daumas
    Vorname: Julien
    Alter: 31   Jahre
    Adresse: 21, Avenue Gambetta, 75020 Paris
    Beruf: Fotograf
    Symptome: Albträume, Schlaflosigkeit
    Anamnese: Selbstmordgefährdung, Depression
    Früherer Krankenhausaufenthalt: Abteilung B, Krankenhaus Sainte-Félicité, 2.   –   27.   Oktober 2000
    Behandelnder Arzt: Dr.   Cyrille Blake
    Cyrille Blake blinzelte und las die letzte Zeile noch einmal.
    Die Überraschung grub eine tiefe Falte zwischen ihre Brauen. Merkwürdig. Dieser junge Mann sollte einer ihrer Patienten in der Psychiatrischen Abteilung von Sainte-Félicité gewesen sein, wo sie zehn Jahre zuvor ihr praktisches Jahr absolviert hatte?
    Sie erinnerte sich weder an den Namen, noch konnte sie ihn mit einem Gesicht in Verbindung bringen. Sie seufzte. Ein Gespenst aus dem Krankenhaus Sainte-Félicité als Patient – keine sonderlich angenehme Vorstellung. Dort wurden nur schwerste psychopathische Fälle behandelt, nichts im Vergleich zu den temporären psychischen Störungen eigentlich gesunder Menschen, um die man sich im Centre Dulac kümmerte. Leicht irritiert stand sie auf und begab sich ins Wartezimmer.
    *
    8   Uhr   35. Auf dem Flur begegnete sie Maryse Entmann, die als Psychoanalytikerin hier im Zentrum tätig war. Sie begrüßten einander herzlich. Aus dem Meditationsraum zu ihrer Linken vernahm Cyrille Entspannungsmusik. Ihre kleine Welt kam wie jeden Morgen in Gang, der ruhige Ablauf eines Ortes, der ganz auf Wohlbefinden ausgerichtet war.
    Auf dem cremefarbenen Sofa im Wartezimmer saß eine einzige Person: ein attraktiver junger Mann. Halblanges blondes Haar, ausgewaschene Jeans, schwarzer Blouson über rotem T-Shirt, schwarze Chucks an den Füßen, Fototasche mit Riemen über der Schulter. Fast war sie darauf gefasst, ein Surfbrett an der Wand zu entdecken. Sobald er die Ärztin eintreten sah, erhob er sich, blickte sie mit seinen grauen Augen durchdringend und sichtlich aufgewühlt an. Cyrille stand einen Moment zögernd da. Nein, sie erkannte ihn nicht wieder. Seine Züge lösten keinerlei Erinnerung in ihr aus. Sie erwiderte seinen Blick
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