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Begraben

Begraben

Titel: Begraben
Autoren: Elena Sender
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so neutral wie möglich – ich bin Ihre fürsorgliche Therapeutin – und bat ihn, ihr zu folgen. Sie kamen am Büro der hübschen, rothaarigen Marie-Jeanne vorbei, die das wohlgeformte Hinterteil des neuen Patienten nicht aus den Augen ließ. Ich wüsste schon, wie ich dich von deinen Albträumen befreien könnte, sagte sie sich, das Kinn auf die Hände gestützt.
    8   Uhr   40.   Julien Daumas und Cyrille Blake nahmen zu beiden Seiten des breiten indonesischen Schreibtisches Platz, auf dessen dunkler Holzplatte der Flachbildschirm eines iMac thronte, rechts davon auf einer Schreibunterlage lag ein Stapel mit Akten. Cyrille räusperte sich, schlug das Krankenblatt auf und eröffnete das Gespräch.
    »Nun, Monsieur Daumas, was führt Sie zu uns?«
    Er hatte es sich in einem Korbsessel mit weißen Kissen bequem gemacht, die Beine leicht gespreizt, die Ellenbogen auf den Knien. Wenn sein Blick einen erst mal fixierte, ließ er einen nicht mehr los.
    »Ich …«
    Er wirkte völlig verunsichert.
    »Ich schlafe nicht gut.«
    »Sie haben Schwierigkeiten, einzuschlafen? Sie wachen nachts auf?«
    »Ich … ähm … ich schlafe nur etwa drei Stunden pro Nacht. Und dann habe ich in dieser kurzen Zeit Albträume.«
    Julien Daumas musterte die Ärztin mit erstaunter Miene. Cyrille machte sich Gedanken. Dieser intelligente, eindringliche Blick voller Fragen irritierte sie.
    »Und so haben Sie beschlossen, uns aufzusuchen?«, fragte sie betont freundlich.
    »Nun … im Sainte-Félicité hatte man mir ja geholfen … das letzte Mal, nach meinen Problemen … Deshalb habe ich mir gedacht … Und dann habe ich das Buch über das Glück gelesen … und …«
    Er ließ den Satz in der Schwebe. Cyrille war zunehmend irritiert. Sie befand sich in einer extrem peinlichen Situation. Nichts, ich erinnere mich absolut nicht an diesen Patienten . Ihr Buch Die Wissenschaft des Glücks hatte sich sehr gut verkauft. Es hatte dazu beigetragen, das Centre Dulac bekannt zu machen, hatte aber auch jede Menge verwirrter Menschen aller Art angezogen, die Marie-Jeanne hatte abweisen müssen. Vielleicht war Julien Daumas ja ihrer Aufmerksamkeit entgangen … Sie nickte kaum merklich und konzentrierte sich auf die Spitze ihres Kugelschreibers. Sie lächelte und sprach ein wenig lauter.
    »Nun, wir werden Ihnen sicher helfen können. Seien Sie unbesorgt. Sie sind also Fotograf.«
    »Ja.«
    Cyrille forderte ihn mit einer Handbewegung auf, fortzufahren.
    »Am liebsten fotografiere ich die Natur. Das Meer, den Wald …«
    Cyrille kniff die Augen zusammen.
    »Reisen Sie oft?«
    »Ja.«
    »Und wohin?«
    »So ziemlich überallhin.«
    »Vielleicht haben Sie ein Jetlag-Problem, einen Mangel an Melatonin, zum Beispiel. Wir werden Ihren Hormonspiegel kontrollieren. Hat meine Assistentin Sie den Fragebogen zum Thema Schlaf ausfüllen lassen?«
    »Ja.«
    Julien Daumas reichte ihr ein doppelt gefaltetes Blatt. Dabei suchte sein Blick den ihren, doch sie wich ihm aus. Sie spürte, wie ihr die Hitze den Nacken hinaufkroch.
    Die schriftlichen Antworten hatten etwas Beunruhigendes. Cyrille las sie laut vor.
    »Bei ›Albträume‹ haben Sie ›Gefühl kurz bevorstehenden Todes‹ angekreuzt und ›tägliche Beklemmungen‹ sowie ›unerklärliche Ängste‹ …«
    Julien Daumas senkte zum ersten Mal den Blick.
    Sie las den Fragebogen bis zum Ende und stellte ihre Diagnose. Posttraumatische Belastungsstörung .
    Die PTBS ist eine psychische Reaktion auf ein belastendes Ereignis, bei dem die physische und psychische Integrität des Patienten bedroht ist und Albträume, Nachhallerinnerungen, Flashbacks, Halluzinationen und Phobien hervorruft … Julien hatte alle Kriterien genannt, die durch die internationale Nomenklatur der Psychiatrie definiert waren.
    8   Uhr   55. Cyrille griff langsam zum Telefon.
    »Marie-Jeanne, es wird noch etwas dauern. Bitte gib dem nächsten Patienten Bescheid.«
    Als sie den Hörer wieder auflegte, blickte Julien Daumas sie fragend an. Plötzlich schien es kälter im Raum.
    »Habe ich ein Hirnproblem?«
    Cyrille legte die Hände auf die Tischplatte.
    »Nein, Monsieur Daumas! Nein, beruhigen Sie sich.«
    Doch ich fürchte, Ihre Albträume und die Schlaflosigkeit sind gravierender, als Sie glauben , hätte sie gerne hinzugefügt.
    »Sie haben die Fragen ›Unfälle, traumatische Ereignisse‹ nicht beantwortet …«
    Juliens Augen waren auf die ihren gerichtet, sein Mund war leicht geöffnet, er blinzelte
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