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Begraben

Begraben

Titel: Begraben
Autoren: Elena Sender
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Diagnose dort im Oktober 2000 ein Patient namens Julien Daumas behandelt wurde. Lass dir sofort seine Krankenakte schicken.«
    Cyrille Blake zwang sich zur Ruhe, doch in ihrer Stimme schwang ein Anflug von Hysterie mit, die sie vergeblich zu unterdrücken versuchte.
    Marie-Jeanne erwiderte aufgeregt:
    »Mein Gott, ist der Typ attraktiv! Ist dir das auch aufgefallen? Sieht aus wie Taylor Kitsch, der Typ aus Wolverine! «
    »Wie wer?«, fragte die Neuropsychiaterin gereizt.
    »Vergiss es. Wenn er wiederkommt, dann sag ihm, in meinem Bett würden ihm die Albträume vergehen. Übrigens, dein nächster Patient kommt eine Viertelstunde später, er hat gerade angerufen.«
    Cyrille Blake legte auf und verdrehte die Augen. Sie hörte Marie-Jeanne noch immer kichern. Vor zwei Jahren hatte Cyrille eingewilligt, Benoîts Nichte probeweise einzustellen. Normalerweise hielt sie nichts davon, Beziehungen auszunutzen, doch in diesem Fall hatte sie eine Ausnahme gemacht, weil sie Marie-Jeanne schätzte. Nachdem diese mit Ach und Krach ihr Abitur bestanden hatte, war sie mit leeren Taschen und ohne irgendeinen konkreten Plan durch die Welt gereist, dafür aber war sie mit jeder Menge Lebenslust und Elan zurückgekehrt. Marie-Jeanne strotzte nur so vor Energie. Zunächst hatte sie in der Telefonzentrale gearbeitet, doch schnell stellte sich heraus, dass sie dort unterfordert war. Ihre Stärke lag im Umgang mit den Patienten und in ihrer Fähigkeit, zu entdramatisieren. Instinktiv konnte sie jede Situation, so kritisch sie auch sein mochte, entspannen, wobei ihr Humor und ihr Temperament ihr zugutekamen. Cyrille hatte sie schließlich zu ihrer persönlichen Assistentin gemacht und es nicht bereut. Trotz des Chaos, das auf ihrem Schreibtisch herrschte, verstand es Marie-Jeanne, einen übersichtlichen Terminplan zu führen, die Krankenakten ordentlich abzulegen und die Ausbrüche in den Griff zu bekommen, die in ihrer Klinik bei Neuaufnahmen unvermeidbar waren.
    Cyrille trommelte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte. Sie musste ihre Ungeduld zügeln, bis sie Antwort aus Sainte-Félicité bekam. Also ordnete sie ihre Papiere und ging dann ins Internet. Über Google rief sie die Fansite von Taylor Kitsch auf, einem jungen kanadischen Film- und Fernsehstar, von dem sie nie zuvor gehört hatte. Stimmt, er sieht ihm ähnlich … Cyrille betrachtete eine Weile ein Schwarz-Weiß-Foto des Schauspielers, das diesen in T-Shirt und Jeans zeigte, und bewunderte seinen athletischen Körperbau. Das Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken.
    *
    Nach Marie-Jeannes Anruf saß Cyrille wie benommen da.
    Sie drehte ihren Stuhl zur Fensterfront, und ihr Blick verlor sich im wolkenverhangenen Himmel. Automatisch trank sie den Rest ihres kalten Kaffees, der eigentlich ungenießbar war, doch sie nahm den Geschmack kaum wahr.
    »Im Oktober 2000 war er drei Wochen in Sainte-Félicité, er wurde wegen eines Selbstmordversuchs, Depressionen und Schlaflosigkeit eingeliefert«, hatte Marie-Jeanne erklärt. »Er war tatsächlich in Professor Maniens Abteilung, und du hast ihn behandelt. Erinnerst du dich nicht mehr daran?« Cyrille, die diese Nachricht erst verdauen musste, war einer Antwort ausgewichen. Nein, zum Teufel, ich erinnere mich nicht! Was die Krankenakte anging …
    »Soll ich wirklich wiederholen, was Professor Manien hat ausrichten lassen?«
    »Ja.«
    »Zuerst hieß es, er hätte die Akte nicht mehr.«
    »Hast du darauf bestanden?«
    »Natürlich! Und da soll er wortwörtlich gesagt haben: Wenn Madame Bonheur sie haben will, soll sie eine offizielle Anfrage an die zuständigen Stellen richten.« Cyrille knirschte mit den Zähnen. Was für ein Idiot! Der hat sich kein bisschen geändert! Rudolf Manien war ein Patriarch der übelsten Sorte. Arrogant, pedantisch, unfähig, Kontakt zu den Patienten aufzubauen, die ihm ausgeliefert waren. Unter anderem hatte Cyrille wegen seiner fragwürdigen Methoden Sainte-Félicité den Rücken gekehrt.
    »Ruf bitte sofort bei besagter Stelle an und beantrage dringend die Krankenakte.«
    Sie hatte entnervt aufgelegt. Und plötzlich überkam sie Angst. Warum erinnere ich mich nicht an diesen Patienten, obwohl ich ihn behandelt habe? Was ist los mit mir  … ?
    Sie sprang auf, trat vor den Spiegel über der Kaffeemaschine und strich sich durchs Haar. Sie wirkte jünger als neununddreißig Jahre: ihr Gesicht war kantig, aber angenehm und ausdrucksvoll, um die Augen entdeckte sie nur wenige feine Fältchen,
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