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Jahrmarkt der Unsterblichkeit

Jahrmarkt der Unsterblichkeit

Titel: Jahrmarkt der Unsterblichkeit
Autoren: Paul Gallico
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Schrei. Sears zielte mit der Faust nach dem Kopf des Lastwagenfahrers, traf und spürte die Erwiderung auf der Wange; nun griffen Hände nach ihm, er hörte das Schlurfen von Füßen, keuchenden Atem und roch Whisky, Schweiß und den Geruch ungewaschener Körper bei der schweigenden Schlägerei im Nachtasyl.
    Dann ließen die Hände von ihm ab, und der Lastwagenfahrer lag über seinem Bett, stöhnte, würgte und hielt sich das geschwollene Ohr, wo ihn die Handseite des Jungen wie ein Axthieb getroffen und ihm das Trommelfell zerschlagen hatte. Der Seemann kämpfte rasch, bösartig und brutal, mit einer entsetzlich methodischen und geübten Wirksamkeit. Sears erkannte darin die Technik der hochausgebildeten Kommandotruppen, doch der Geist der Szene war der des Kampfes zwischen David und Goliath.
    Bierbauch lag mit einem gebrochenen Knöchel k.o. auf dem Boden. Der Junge arbeitete jetzt so flink, daß die beiden Holzfäller nie die Möglichkeit hatten, gleichzeitig die Hand an ihn zu legen. Dem einen schloß er mit einem Schlag das Auge, dem andern versetzte er einen Stoß mit dem Knie. Ein kräftiger Landstreicher sprang zu, packte eine eiserne Kanne vom Waschtisch, um sie dem Jungen auf den Hinterkopf zu schlagen und ihm den Schädel zu zerschmettern. Sears stieß gerade noch zur rechten Zeit den Fuß vor, der Mann fiel darüber, und die Eisenkanne stürzte scheppernd zu Boden. Scheinbar ohne hinzusehen und ohne den Rhythmus seiner Schläge zu unterbrechen, trat der Seemann dem auf der Erde liegenden Landstreicher mit dem Absatz auf den Adamsapfel.
    Darauf gab es eine kurze Ruhepause. Die gestürzten und verletzten Männer waren von Zuschauern umringt, die entsetzt starrten, doch hinter ihnen machte sich eine bedrohliche Bewegung bemerkbar. Der Ausdruck auf dem Gesicht des Jungen erfüllte Sears mit Furcht. Wenn nun noch etwas passierte, würde er töten.
    Sears rang nach Luft und sagte: «Komm, wir verschwinden hier.»
    «Warum?» fragte der Junge. «Ich habe bezahlt!»
    «Mach dir nichts draus. Ich weiß eine andere Bleibe. Nach diesem Krach setzen sie uns doch an die Luft. Da gehen wir lieber vorher.»
    Die Lust zu töten in den Augen des Jungen erlosch. «Einverstanden!» sagte er. «Aber es war keine schlechte Einführung hier.» Er packte seinen Seesack und die Jacke. Sears ließ sich nur Zeit, nach der Bibel zu fassen. Die brauchte er noch. Gemeinsam gingen sie aus der Tür und die Treppe hinunter. Kein Mensch versuchte sie aufzuhalten.

3

    Sondern ein jeglicher wird versucht, wenn er von seiner eigenen Lust gereizt und gelockt wird.
    JAKOBUS 1, 14

    Später saßen sie im Kaffeeraum des Unionshotels unten am Bahnhof, wo Sears, nun bereit, einen Teil seines Betriebskapitals zu investieren, für sie Zimmer genommen hatte — der Junge ebenso gleichgültig und von kühler Selbstsicherheit, wie er es auf dem Höhepunkt der Schlägerei gewesen war, während der Ältere ihn studierte und nach der Schwäche forschte, die ihm die Oberhand geben könnte. Die Bibel mit der verblaßten Goldprägung «Mission der Menschenbrüder» lag zwischen ihnen auf dem Tisch. Sears lächelte, als er sah, daß der Blick des Jungen darüberglitt.
    «Ein Andenken» ,sagte er und fragte dann:« Bist du vertraut damit?»
    «Ja. Als Kind habe ich einen großen Teil des Alten Testaments auswendig gelernt.»
    Sears nickte. «Dann erklär mir mal eins. Gleich zu Anfang, im fünften Kapitel der Genesis. Wie kommt das, daß all diese Burschen so lange lebten — acht- und neunhundert Jahre?»
    Der junge Seemann erwiderte: «Weil Gott es so wollte.»
    Sears sah ihn scharf an. «Machst du Witze?»
    «Nein. Ich mache keine Witze. Du hast gefragt. Ich habe geantwortet.»
    «Stimmt. Wie heißt du eigentlich?»
    «Ben-Isaak Levi.»
    «Ich heiße Sears. Joe Sears. Du kannst kämpfen, Junge.»
    «Danke. Es war anständig von dir, mir zu helfen, wenn es auch nicht nötig gewesen wäre. Warum hast du das getan? Du hättest verletzt werden können, während du einen Juden verteidigtest.»
    Sears zuckte die Achseln. «Ich habe nichts gegen Juden. Ich habe mich um den Antisemitismus nie gekümmert...»
    «Wir sind daran gewöhnt.» In der einfachen Feststellung einer historischen Tatsache klang keine Prahlerei. Der Junge war kühl, wachsam und bestimmt kein Narr. Sears hatte den Eindruck, von einem Menschen durchschaut zu werden, der fast ebenso zynisch war wie er selber. Niemand mischt sich aus romantischen Gründen in eine niederträchtige Schlägerei.
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