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Jagdzeit

Titel: Jagdzeit
Autoren: Claudia Toman
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Gewohnheit flüchtig seinen Ringfinger, was ich sofort bereute, da er es bemerkte, den Mund noch spöttischer verzog und mir wie zur Antwort die Hand hinstreckte. Ringlos.
    Ich griff nicht danach, stattdessen biss ich mir auf die Lippen und sah ihn feindselig an. Er ließ die Hand wieder sinken, machte jedoch keine Andeutung, mich zum Sitzen aufzufordern, was mir nur recht war.

    »Offensichtlich«, sagte er leise, »wissen Sie bereits, wie man mich hier nennt. Ehrlich gesagt habe ich auch nichts dagegen, es bewahrt mich vor lästigen Fragen.«
    Ich war nicht gewillt, ihm darauf irgendeine Antwort zu geben. Tatsächlich wünschte ich dringender denn je, eine Tür hinter mir zuzusperren. Am besten doppelt.
    »Wenn Sie einer dieser Schriftsteller sind, die sich durch derartige Extravaganzen eine besonders künstlerische Aura verleihen wollen, dann muss ich Ihnen mitteilen, dass die Wirkung zu wünschen übrig lässt. Daher …«
    »Wieso Schriftsteller?«, unterbrach er mich, ehrlich erstaunt.
    »Nun, ich dachte …«, begann ich und deutete vage auf sein Notizbuch. Gleichzeitig verfluchte ich meine dumme Angewohnheit, mir aufgrund eines flüchtigen ersten Eindrucks immer gleich ein festes Bild von anderen Menschen zu machen. Fettnäpfchenprädestiniert!
    Er betrachtete das Buch in seiner Hand, schien eine Entscheidung zu treffen und streckte es mir schulterzuckend hin. Ich warf einen Blick darauf und sah mich mit einer ziemlich treffenden Skizze meines misstrauischen, verkniffenen Gesichtes konfrontiert. Mein Unwohlsein potenzierte sich schlagartig.
    »Sie zeichnen?«
    »Nur so eine Angewohnheit«, antwortete er, während er den Block zuklappte. Wir starrten uns wenig freundlich an.
    »Also, wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich jetzt zurückziehen, Sie finden sicher genügend andere lohnende Motive hier im Raum, einen schönen Abend noch.«
    Ich wandte mich zum Gehen und bemerkte, dass es erstaunlich still im Wirtshaus geworden war. Oder war ich so laut geworden? Mittlerweile sahen nämlich alle Gäste unverblümt
neugierig in meine Richtung. Heilige Scheiße, es war wirklich Zeit, zu verschwinden!
    »Nur eine Sache«, sagte der Schnüffler, leise genug, dass nur ich ihn hören konnte. »Seien Sie vorsichtig mit dem, was Sie essen und trinken!«
    Das genügte. Mehr als eine Anspielung auf meine anscheinend so offensichtlichen Gewichtsprobleme brauchte ich an diesem ohnehin vermasselten Abend nicht. Für was hielt sich diese armselige Figur eigentlich? Ohne ihn eines letzten Blickes zu würdigen oder mich um die keineswegs leisen Lacher von den anderen Tischen zu kümmern, lief ich quer durch den Raum, aus der Wirtsstube hinaus, die Treppe hinauf in den ersten Stock, schloss hektisch meine Zimmertür auf, schlug sie hinter mir zu und lehnte mich schwer atmend dagegen. Von der gegenüberliegenden Wand starrte mich mein Spiegelbild aus einem widerlich großen Wandspiegel an. Mein fettes, hässliches, unförmiges Spiegelbild in einer lächerlich grellen, kirschroten Lederjacke, das Gesicht passend dazu glänzend tomatenfarben, die schlecht geschnittene Kurzhaarfrisur strähnig und wirr.
    »Hau ab!«, rief ich dem Spiegelbild zu und presste mir die Fäuste auf die Lider, um die Tränen gewaltsam zurückzudrängen. Es gelang mir nicht. Schluchzend warf ich mich quer auf das Bett.
    Jede Frau hat hin und wieder Probleme mit ihrem optischen Erscheinungsbild. Bei mir allerdings war dies ein Dauerzustand, der natürlich nicht damit behoben werden konnte, aus Frust noch ein Stück und noch ein Stück und noch ein Stück Schokolade einzuwerfen. Da konnte ich noch so viele Hauptmahlzeiten durch Salate ersetzen. Wenn ich mich anschließend
mit einer Dose Cashewnüsse, einer Packung Chips oder einer klitzekleinen Tafel Lindt belohnte, würde sich an meiner Wieso-passt-diese-Größe-vierzig-Hose-nicht-Figur so schnell nichts ändern. Dabei habe ich es versucht. Vollkornbrot, rohe Kohlrabi, 0,1-prozentige Milch, Fisch natur, Fisch roh, Putenschinken, Salat, Kräutertee ohne Zucker, all das macht einen Großteil meiner Nahrungszufuhr aus. Doch es gibt ein paar Schwachstellen: fetter, weich schmelzender und möglichst stinkender Blauschimmelkäse, dazu frisch aufgebackenes französisches Baguette. Weißer Nougat. Marzipan im Block. Walkers Butterkekse. Blätterteigbrezel. Schaumrollen. Crème fraîche direkt aus dem Becher. Erdnussflips. Dunkler, trockener Rotwein. Süße Cocktails. Essen vor dem Fernseher. Essen beim Lesen.
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