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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut
Autoren: Ines Eberl
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Halle.
    Die Landschaft vor dem Jagawirt war mit einer dünnen Reifschicht
überzogen. Sonnenstrahlen tasteten sich wie Finger über das Tal, und die
Nachtnebel über den Wiesen stiegen als goldene Schleier in den kühlen blauen
Himmel. Ich zog meine Handschuhe an, setzte die Mütze auf und lief los.
    Hinter dem Jagawirt nahm ich den Pfad, der zum Bergwald führte. Die
leuchtenden Lärchen züngelten wie Flammen aus ihrem Bett aus Latschenkiefern,
der schartige Grat der Felswand war mit noch mehr Schnee bestäubt, und die Luft
war klar und scharf. Bei jedem Schritt hörte ich das gefrorene Herbstlaub unter
meinen Füßen rascheln, eine geflüsterte Ankündigung des kommenden Winters. Ich
lief über die Brücke und dann weiter den stetig ansteigenden, von Geröll
bedeckten Weg hinauf. Während ich meinen Rhythmus fand, hörte ich nichts außer
dem leisen Trab meiner Schritte. Der Wald schien eine eigene Kraft und
Persönlichkeit zu besitzen, die mich umfing und trug und die Alltagsgedanken
von mir nahm. Ich rannte über dürres Geäst und loses Geröll und durchbrach die
Eispanzer in den gefrorenen Erdmulden. Nicht ein einziges Mal kam mir der
Gedanke, ich könnte straucheln oder ausrutschen.
    Mit der Zeit veränderte sich meine Umgebung. Es wurde heller, die Sonne
stach durch die Zweige, dann wurden die Bäume spärlicher. Schließlich blieb der
Wald ganz hinter mir zurück.
    Der Pfad schlängelte sich nun zwischen Latschenfeldern und verblühten
Almrauschstauden über abgeweidete Wiesen bergan. Die Hufspuren von grasenden
Kühen waren noch deutlich zu erkennen, und grauer Dung sprenkelte den Almboden.
Rundgeschliffene Findlinge lagen in weitem Kreis herum, als hätte ein Riese mit
ihnen Murmeln gespielt und sie dann achtlos liegen gelassen. Einmal hörte ich
den warnenden Pfiff eines Murmeltiers, sah aber nur noch sein dickes Hinterteil
unter einem Felsen verschwinden. Ein scharfer, trockener Knall ließ mich
zusammenfahren. War das etwa ein Schuss gewesen? Außer mir waren anscheinend
auch Jäger unterwegs.
    Der Weg endete auf einer ausgefahrenen Forststraße, die sich quer über
den Hang zog. Verschwitzt und ziemlich außer Atem blieb ich stehen. Inzwischen
war es richtig warm geworden. Es ging schon auf Mittag zu, ich war länger unterwegs
gewesen als geplant und bereute, keine Wasserflasche mitgenommen zu haben.
    Zur einen Seite fiel die Forststraße ein kurzes Stück ab, machte dann
eine Kurve und verschwand hinter einem Bergrücken. In die andere Richtung
verlief sie noch etwa hundert Meter zwischen den Weiden und endete vor einer
Almhütte, die direkt an einer Geländekante stand, hinter der es steil ins Tal
hinabging. Neben der Hütte parkte ein schwarzer Pick-up. Ich verstaute Mütze
und Handschuhe in den Taschen und lief hinüber.
    Die Almhütte war eher ein Bergbauernhof denn eine Hütte. Silbrig grau
verwitterte Holzschindeln bedeckten die Außenwände. An einem Hauseck war eine
überdachte Veranda angebracht, den ersten Stock zierte ein windschiefer Balkon.
Das Dach war mit Steinen beschwert, und die geschlossenen Läden an den Fenstern
waren mit armdicken Balken gesichert. An der Vorderfront hing ein großes
Holzkreuz mit einer in der Sonne weiß leuchtenden Christusfigur. Hinter dem
Kruzifix steckte ein vertrockneter Blumenstrauß. Darunter stand die Hausbank.
Ich zog die Jacke aus, ließ mich darauffallen und genoss den Ausblick.
    Von der Bergflanke auf der anderen Talseite leuchteten Schneefelder
herüber. Ein großer Schatten löste sich aus einer Felswand, und ein mächtiger
Steinadler ließ sich mit ausgebreiteten Schwingen, von unsichtbaren Winden
getragen, den Hang hinabgleiten. Das Schlagen einer Autotür riss mich aus
meinen Gedanken. Ein hochgewachsener Mann kam um die Ladefläche des Pick-up
herum. Er schleifte ein totes Tier an den Vorderläufen hinter sich her, das ich
auf den ersten Blick für eine Ziege hielt. In der Hand hielt er ein Jagdmesser.
Er legte den Kadaver auf dem Wiesenstück vor der Hütte ab und warf das Messer
daneben. Dann drehte er sich um und wollte offenbar noch einmal zum Wagen
zurückgehen, als er mich an der Hüttenwand sitzen sah und abrupt stehen blieb.
Er kam mit schnellen Schritten auf mich zu. Direkt vor mir blieb er stehen und
starrte auf mich herab. Sein blondes Haar war verschwitzt. Die blauen Augen
verengten sich. Ich schätzte ihn auf Anfang dreißig.
    »Grüß Gott«, sagte ich. »Sitze ich etwa auf Ihrer Bank?« Unter seinem
Blick fühlte ich mich als
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