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Jagablut

Jagablut

Titel: Jagablut
Autoren: Ines Eberl
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EINS
    Mit der Nacht kam der Nebel. Er quoll über die gezackten
Berggipfel, ballte sich zusammen und kroch in Schwaden durch Felsrinnen und
Lärchenwälder die Bergflanke hinab. In der scharfen Luft lag eine erste Ahnung
von Schnee. Auf dem Holzschindeldach der Almhütte glitzerten Reifkristalle im
Schein des Oktobermondes, der hin und wieder durch die treibenden Wolken brach.
    Sanft berührte ein weißer Nebelschleier den Mann, der sich wenige
Schritte vor der Hütte auf dem feuchten Moos krümmte, legte sich wie eine
leichte Decke über ihn und überzog den groben Stoff seiner geflickten Jacke und
das abgeschabte Leder seiner Bundhose mit gefrierender Nässe. Der Mann spürte
die Kälte in seiner rechten Hand, wenn er immer wieder über das klamme Leder strich,
das seine gefühllosen Oberschenkel bedeckte. In seinem Rücken brannte ein
Feuer, und der Schmerz zwang ihn, so flach wie möglich zu atmen. Er wusste,
dass der Vollmond das Wetter umschlagen ließ. Im Laufe der Nacht würde der
Nebel aufreißen und sich auflösen, und sein schutzloser Körper würde der Kälte,
die sich schon jetzt schmerzhaft bemerkbar machte, schutzlos ausgeliefert sein.
Der Mann stützte seinen linken Ellenbogen auf und versuchte stöhnend, sich
aufzurichten.
    »Hilfe!«, rief er heiser. »Hilfe!«
    Mühsam verrenkte er den Kopf nach hinten und blickte zu den geschlossenen
Holzläden der Almhütte hinauf, vor der er auf der Hausbank seinen Rucksack und
den daran gelehnten Bergstutzen erkennen konnte. Mit einem tiefen Atemzug
krallte er die linke Hand in die Zweige des Wacholderstrauches, unter dem er
seit Stunden lag. Er versuchte, sich aufzusetzen. Der Schmerz in seinem Rücken
raste, das Blut dröhnte in seinen Ohren. Er schaffte es nicht. Er konnte sich
nicht hochziehen. Sein kräftiger vierundzwanzigjähriger Körper und die mit
Nässe vollgesogene Kleidung waren zu schwer für seine ermüdeten Arme.
    Der Mann zitterte so heftig, dass er sich nicht mehr an den Zweigen
festhalten konnte. Erschöpft ließ er sich wieder auf den feuchten Loden seines
Wetterflecks sinken.
    »Hilfe«, murmelte er. »Hilfe.«
    Nach und nach verlangsamte sich sein Atem, und eine tiefe Müdigkeit
ergriff von ihm Besitz. Der Schrei eines Uhus durchbrach die Stille. Noch
einmal öffnete der Mann die Augen und blickte ins Tal hinab. Um ihn herum war
der Nebel nur noch ein dünner, sich auflösender Dunst, doch unter ihm wogte ein
dickflüssiges Wolkenmeer. Dunkelheit griff nach ihm, und eine schläfrige
Teilnahmslosigkeit breitete sich in ihm aus. Da hörte er das Geräusch.
    Plötzlich war der Mann hellwach. Er lauschte in die Nacht hinaus, doch er
konnte nur das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren hören. Da war
nichts.
    Er schloss die Augen. Da hörte er wieder das Geräusch. Er hatte sich
nicht getäuscht. Schritte näherten sich ihm von hinten. Sein Herz begann wie
wild zu schlagen. Mit einer letzten Anstrengung wandte er den Kopf.
    Die Sicht hatte sich vergrößert, und in der klaren, eisigen Luft konnte
er deutlich eine dunkle Gestalt über den steinigen Pfad neben der Hütte
herabsteigen sehen. Direkt über ihm blieb sie stehen.
    »Gott sei Dank«, flüsterte der Mann. »Du bist es.«
    Die Gestalt hob ihr Gewehr, zielte und drückte ab.

ZWEI
    Geduld ist die Tugend des Jägers. Und des Mörders. Ohne seine
Deckung zu verlassen, darf er das anvisierte Ziel nie aus den Augen verlieren.
Im rechten Moment muss er ohne Zeugen töten. Manchmal dauert die Pirsch nur
Stunden, manchmal mehrere Wochen, zuweilen aber auch ein ganzes Leben lang.
    Diese Erfahrung lag noch in weiter Ferne, als ich an einem windigen Septembertag
in meinem neuen Leben in den Bergen ankam. Am frühen Nachmittag war ich unter
der stechenden Großstadtsonne in Wien losgefahren, jetzt dämmerte es schon.
Kurz nach Salzburg hatte der Regen eingesetzt, und die Bergketten, die während
der letzten Stunde meiner Fahrt links und rechts der Landstraße immer mehr an
Höhe gewonnen hatten, verloren allmählich ihre Konturen hinter dichten
Regenschleiern. Schließlich verschmolzen sie ganz mit den tief hängenden
Wolken. Ein munterer Landregen prasselte auf das Dach meines neuen Landrover
Defender. Ich drehte die hektische Stimme des Radiomoderators ab, um dem Spiel
des Wassers ungestört lauschen zu können. Erste gelbe Blätter sprenkelten die
gerippten Wasserlachen auf dem Asphalt und breiteten im Licht der Scheinwerfer
einen leuchtenden Teppich aus Goldmünzen vor mir aus.
    Als der
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