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Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
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sprach
der Hodscha zu sich und blickte ihnen nach. »Wie sind sie nur so schnell
hereingekommen und ausgerechnet auf mich gestoßen! Das ist wahrhaftig mein
Schicksal: Es geschieht keine Veränderung in dieser Stadt, bei der ich nicht
eins über den Kopf kriege.«
    So stand er vor seinem beschädigten
Laden, verstört, mit schwerem Kopf und zerschlagenen Gliedern. Vor ihm lag der
Markt, der, mit großen und kleinen Steintrümmern, Dachziegeln und zerbrochenen
Holzbalken übersät, im Licht der Morgensonne einem Schlachtfelde glich. Sein
Blick schweifte weiter zur Brücke. Die Kapija war noch an ihrem Platze, aber
unmittelbar hinter der Kapija war die Brücke unterbrochen. Der siebte
Brückenpfeiler fehlte. Zwischen dem sechsten und achten Pfeiler gähnte eine
Leere, durch die in schräger Sicht das grüne Wasser des Flusses
durchschimmerte. Vom achten Pfeiler an setzte sich die Brücke wieder fort und
lief bis zum anderen Ufer, glatt, gerade und weiß, wie sie gestern und seit je
gewesen.
    Der Hodscha blinzelte ein paarmal
ungläubig, dann schloß er die Augen. Vor seinem inneren Blick tauchte die
Erinnerung an die Soldaten auf, die er vor fünf, sechs Jahren gesehen hatte,
wie sie, verdeckt von dem grünen Zelt, etwas in diesem gleichen Pfeiler
gruben, das Bild jenes eisernen Deckels blitzte auf, der später jahrelang den
Eingang in das minierte Innere des Pfeilers bedeckt hatte, und daneben das
rätselhafte und sprechende, taube, blinde und stumme Gesicht des Feldwebels
Blankowitsch. Er raffte sich auf und öffnete wieder die Augen, aber in seinem
Gesichtsfeld war immer noch das gleiche: der Markt, übersät mit großen und
kleinen Steintrümmern, die Brücke, in der ein Pfeiler fehlte und zwischen zwei
grob zerbrochenen Bögen eine Leere gähnte.
    Nur im Traum konnte man solche Dinge
erleben und sehen. Nur im Traum. Aber wenn er sich von dem unwahrscheinlichen
Bild abwandte, dann stand sein Laden mit dem großen Stein, einem Teil des
siebten Pfeilers, zwischen den umhergeworfenen Waren vor ihm. Wenn es ein Traum
war, dann war er überall.
    Von der anderen Seite des Marktes
hörte man Rufen, laute serbische Kommandos und eilige Schritte, die sich
näherten. Alihodscha legte schnell den Laden vor, schob das große Vorhängeschloß
durch den Vorlegebalken und machte sich auf den Weg nach oben zu seinem Hause.
    Auch früher war es geschehen, daß
ihm, während er so bergauf ging, der Atem ausblieb und er sein Herz dort
klopfen fühlte, wo es nicht sollte. Schon seit langem, seit seinem fünfzigsten
Jahr, wurde dieser heimatliche Berg irgendwie immer steiler und der Heimweg
immer länger. Aber nie so sehr wie heute, da er möglichst schnell aus der
Stadt fortkommen und zu Hause sein möchte. Das Herz schlägt, wie es nicht
soll, es würgt ihm den Atem ab und zwingt ihn, stehenzubleiben.
    Dort unten singen sie wohl. Dort
unten ist auch die zerstörte Brücke, furchtbar und grausam in der Mitte
zerschnitten. Er braucht sich nicht umzuwenden – und er hätte sich auch um nichts
in der Welt umgedreht –, um das ganze Bild zu sehen; der Pfeiler, wie ein
gewaltiger Baumstumpf, oberhalb der Wasserfläche abgeschnitten und in tausend
Trümmern über die Umgebung verstreut, die Bögen links und rechts des Pfeilers
jäh unterbrochen. Zwischen ihnen gähnt eine Leere von etwa fünfzehn Metern.
Und die abgebrochenen Seiten der getrennten Bögen streben schmerzlich
zueinander.
    Nein, um nichts in der Welt würde er
sich umwenden! Aber er kann auch nicht vorwärts, bergauf, denn immer mehr
erstickt ihn sein eigenes Herz, und die Füße versagen den Dienst. Er beginnt
zu atmen, so tief er kann, langsam, gleichmäßig, mit jedem Male tiefer. Das
hat früher noch immer geholfen. Das hilft auch jetzt. In der Brust wird es
irgendwie leichter. Zwischen dem gleichmäßigen, tiefen Atmen und dem Schlag des
Herzens stellt sich ein Gleichgewicht her. Er schreitet weiter, und der Gedanke
an sein Haus und an das Bett treibt ihn und spornt ihn an.
    Er schreitet mühselig und langsam,
vor den Augen ist ihm ständig, als bewege sich dies Schauspiel der zerstörten
Brücke vor ihm her. Es genügt nicht, einer Sache den Rücken zuzuwenden, damit
sie uns nicht weiter verfolge und quäle. Auch wenn er die Augen schlösse, er
würde nur dies sehen.
    Ja, denkt der Hodscha, schon ein
wenig leichter atmend, jetzt sieht man, was ihre ganze Geschäftigkeit und
Emsigkeit war und wozu sie wirklich diente, diese ganze Dringlichkeit und dieser
ganze
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