Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ivo Andric

Ivo Andric

Titel: Ivo Andric
Autoren: Die Brücke über die Drina
Vom Netzwerk:
Wut brannte, und als sei nun auch er von dieser
Flamme erfaßt, die ihn trieb, zu schimpfen, zu laufen, zu drohen und um sich
zu schlagen.
    Das erste Lebewesen, auf das er bei
seinem Laufe stieß, war Alihodscha. Er war gerade aus seinem Stadtviertel
heruntergekommen, um nach seinem Laden zu schauen. Als er den wohlbekannten
Wachtmeister Repatz erblickte, der völlig verändert auf ihn zuschoß, fragte
sich der Hodscha überrascht, ob dieser wildgewordene, verängstigte Mensch wirklich
jener gleiche Wachtmeister sei, den er jahrelang gesehen hatte, wie er ruhig,
würdig und höflich an seinem Laden vorüberging. Jetzt blickte ihn der finstere
und grobknochige Repatz mit völlig neuen Augen an, die niemanden mehr kannten
und nichts als ihre eigene Angst sahen. Der Wachtmeister begann sofort zu
brüllen, als wiederhole er, was er eben von dem deutschen Hauptmann gesehen
und gehört hatte.
    »Aufhängen sollte man euch alle, der
Teufel soll euch holen! Habt ihr denn nicht Befehl, die Läden offen zu halten!
Und ich muß mich euretwegen, euretwegen ...«
    Und noch ehe der verwirrte Hodscha
ein Wort sagen konnte, bekam er eine schallende Ohrfeige, daß ihm die
Hodschabinde vom rechten Ohr auf das linke rutschte.
    Der Wachtmeister eilte besinnungslos
weiter, um die anderen Läden öffnen zu lassen. Der Hodscha aber rückte seinen
Turban zurecht, öffnete die Ladentür und setzte sich, noch immer außer sich vor
Staunen, an ihr nieder. Vor dem Laden reihten sich Soldaten fremden Aussehens,
in weißen Uniformen, wie er sie noch nie gesehen. Alles das erschien dem
Hodscha wie ein Traum. Aber er wunderte sich über nichts mehr in dieser Zeit,
da die Maulschellen vom Himmel fielen.
    So verging der ganze Monat unter
zeitweiligem Beschuß der Brücke und Schießereien auf den umliegenden Bergen,
unter Leiden und Gewalt aller Art und in der Erwartung noch schlimmeren
Unheils. Schon in den ersten Tagen hatte der größere Teil der Bevölkerung die
Stadt verlassen, die zwischen zwei Feuern lag. Ende September aber begann die
völlige Räumung der Stadt Wischegrad. Auch die letzten Beamten wurden nachts
und auf der Landstraße, über die Brücke, zurückgezogen, denn die Bahn war
bereits abgeschnitten. Danach wurde schrittweise auch das Militär vom rechten
Drinaufer zurückgenommen. Es blieben nur unbedeutende Nachhuten sowie kleinere
Pionierabteilungen und verstreute Gendarmeriestreifen. Bis auch sie an die
Reihe kamen.
    Wie verurteilt, aber noch immer im
Wesen unberührt und unversehrt, stand die Brücke zwischen zwei sich bekriegenden
Welten.

24
    Während der Nacht hatte sich der Himmel
bewölkt, und wie im Herbst hatten sich die Wolken in den Bergen verfangen und
am Himmel zu einer Decke geschlossen. Die Österreicher hatten die dunkle Nacht
ausgenützt, um auch die letzten Abteilungen zurückzunehmen. Noch vor dem
Hellwerden stand alles nicht nur auf dem anderen Drinaufer, sondern schon auf
den Höhen hinter den Bergen von Lijeska, außer Sicht- und Reichweite der
serbischen Geschütze.
    Seit Tagesanbruch fiel ein feiner,
fast herbstlicher Regen. In diesem Regen gingen die letzten Patrouillen die
Häuser und Läden in der Nähe der Brücke ab, um zu sehen, ob sich dort nicht
etwa noch jemand aufhalte. Alles war wie ausgestorben; das Offizierskasino,
Lottikas Hotel, die zerstörte Kaserne und jene drei bis vier Läden am Eingang
zur Stadt. Nur vor Alihodschas Laden trafen sie den Hodscha, der gerade von
seinem Hause gekommen war und die Läden geöffnet hatte. Die Gendarmen, die den
Hodscha als Sonderling kannten, ermahnten ihn auf das ernsthafteste, sofort das
Geschäft zu schließen und den Markt zu verlassen, denn jedes weitere Verweilen
in der Nähe der Brücke sei strengstens verboten und »lebensgefährlich«. Der
Hodscha sah sie wie Betrunkene an, die nicht wissen, was sie reden, und wollte
ihnen gerade antworten, gefährlich sei das Leben hier schon seit langem, wir
seien sowieso alle bereits tot und warteten nur, bis wir mit der Beisetzung an
die Reihe kämen, aber gelehrt durch die schlechten Erfahrungen der letzten
Tage, besann er sich und sagte ihnen ruhig und natürlich, er sei nur gekommen,
um etwas aus dem Laden zu holen, und werde sofort wieder gehen. Die Gendarmen,
denen es offenbar eilte, ermahnten ihn noch einmal, er solle möglichst schnell
diese Gegend verlassen, und gingen über den Markt zur Brücke. Alihodscha sah
sie mit unhörbaren Schritten auf dem Staub gehen, aus dem der Regen einen
feuchten, dicken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher